Dresden. Was für eine Flut von Bildern stellt sich bei dem Namen dieser geschichtsträchtigen Stadt ein! Angefangen bei August dem Starken, über den Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg, bis zu den Friedensgebeten vor dem Mauerfall.
Michael Görings neues Buch „Dresden“ ist kein explizit historischer, auch kein explizit politischer Roman. Und doch sind Historie und Politik ständig gegenwärtig. Denn auch „das Private ist politisch“, wie es so schön heißt. Der „Roman einer Familie“, (Untertitel), belegt das beispielhaft. Anhand der Familie Gersberger spannt der Autor und scheidende Chef der ZEIT-Stiftung ein Gesellschaftspanorama auf, das ganz beiläufig aufzeigt, warum das SED-Regime scheitern musste.
Im Mittelpunkt steht die Geschichte einer Freundschaft. Die Freundschaft des West-Studenten zu einer Familie aus dem Osten. Fabian erlebt bei den Gersbergers den DDR-Alltag in all ihren Facetten. Mangelwirtschaft, Hoffnung auf Wandlung, Sehnsucht nach Freiheit. Frust, Minderwertigkeitsgefühle, Trotz.
Es fällt nicht schwer, in Fabian den jungen Michael Göring zu erkennen. Wie er sich 1975, als frischgebackener Student und froh, endlich der provinziellen Enge in Ostwestfalen entkommen zu sein, mit einem Kommilitonen in Richtung innerdeutsche Grenze aufmacht. Den geliebten VW-Käfer vollgepackt mit Kaffee, Schokolade, Shampoo, Waschmittel – und verbotener Weise auch mit einer Leonard-Cohen-Kassette in der Unterhose seines Reisegefährten. Ein Geschenk für Anne, die Tochter der Dresdner Brieffreundin seiner Tante. Natürlich hat Anne einen anderen Namen, genau wie ihr jüngerer Bruder Kai und deren Eltern, Gabi und Ekkehard Gersberger, die Fabian wie einen zweiten Sohn aufnehmen. Die Familie jedoch, die gibt es, und die Freundschaft hat bis heute gehalten.
Anne wird Fabians erste Liebe, ungeachtet ihrer Verlobung mit Thorsten. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum es den jungen Mann bis zur Wende 1989 nun regelmäßig nach Dresden zieht. Die liebevolle Art und der starke familiäre Zusammenhalt der Gersbergers wärmt sein Herz. Vor allem Eckkehard Gersberger, der ruhige, besonnene Ingenieur und Hochschulprofessor, der so fest daran glaubt, dass sich die Verhältnisse in der DDR mit der Zeit zum Besseren wenden, verkörpert einen Vater, wie ihn sich Fabian immer gewünscht hat. Keiner, der einen fertigmacht und zusammenschreit, sondern einer, der Rückhalt bietet und seinen Sohn in den Arm nimmt, selbst in schwierigsten Situationen. Kai, dessen Frust über das „Staatsgefängnis DDR“ im Laufe der Zeit immer größer wurde, unternimmt einen (vergeblichen) Fluchtversuch über die Elbe. Für Ekkehard „eine Riesendummheit“, aber er hält zu ihm, besucht den Sohn im Knast und nimmt klaglos in Kauf, dass er an der Hochschule beruflich kaltgestellt wird.
Wer einmal das beklemmende Gefühl an der Innerdeutschen Grenze bei Pass- und Gepäckkontrollen erlebt hat, staunt über Gespür und Genauigkeit, mit der Michael Göring das Lebensgefühl in der alten DDR beschwört: Die Freude der Freunde über einen guten Bohnenkaffee, eine Banane oder „Bückware“, wie ein paar Stückchen Ananas. Die Selbstverständlichkeit einer jungen Frau in Sachen Sexualität und Körperlichkeit, wie sie der Chorknabe aus der Ostwestfälischen Provinz zuvor nicht kannte. Das sind alles Erinnerungen, die sich bei Michael Göring tief eingegraben haben und die er mit großem Einfühlungsvermögen schildert. Ebenso die bedrückende Atmosphäre, das unterschwellige Klima der Angst vor dem Stasi-Apparat, der ständig steigenden Frust über das SED-Regime, dessen blumige Verlautbarungen so offenkundig im Widerspruch zu der trostlosen Realität in diesem grauen Ostdeutschland stehen, dass es schon wehtut.
Ein Erlebnis, das Göring noch heute vor Augen steht, ist die Verzweiflung der sonst so zuversichtlichen mütterlichen Freundin im Jahr 1988, wenige Monate vor Grenzöffnung. Grund ist das geplante Silizium-Werk im Stadtteil Gittersee. Das „hochgiftige Zeug“, das Dresden im Falle eines Chemieunfalls in ein zweites Seveso verwandelt hätte. „Die weinende Frau, die sagt, wir schaffen es nicht mehr. Dieses Regime tötet uns! – Das hat mich sehr beeindruckt“.
Dennoch dürfe man dieses Buch nicht als autobiographisch missverstehen, betont der Autor. „Es ist ein Roman, in den sehr viel hinein fiktionalisiert wurde“. Den freiheitsliebenden Kai, der sich 1989 in einem der Züge aus Prag zum zweiten Mal in Richtung Westdeutschland aufmacht, den hat es so nie gegeben. Der Mann, dem der Autor seinen Roman gewidmet hat, der Journalist Thoralf Plath (1962-2017), der 17jährig durch die Elbe schwamm und geschnappt wurde, sei nur eine der „vielschichtigen Folien für Kai“ gewesen. Und sicher habe er auch „das Familienidyll überhöht“.
Die Ansichtskarten, die Fabian aus aller Welt nach Dresden schickt, die gab es aber wirklich. Und es rührt und freut Göring, dass die Freunde sie bis heute bewahren. „Es stimmt schon“, gibt er zu, „ich stecke tief in dem Fabian drin“. Erst sehr viel später habe er sich gefragt, ob er nicht zu naiv gewesen sei, „ob man diese Freiheits- und Reisesehnsucht“ mit den regelmäßigen Ansichtskarten wunderschöner ferner Gegenden, wie den Rocky Mountains in den USA „nicht noch bestärkt habe“.
Dabei war doch klar, „dass auch im Westen nicht alles wunderbar war. Ich habe es nie verstanden, dass so viele Leute im Westen auf die Leute im Osten herabgeblickt haben. Mir hat immer sehr imponiert, was die Familien dort für ihre Kinder getan haben. Trotz widriger Umstände“. Er verstehe sehr gut, dass sich aus dem Minderwertigkeitsgefühl, das vielen DDR-Bürgern eingeimpft wurde, eine trotzige Ablehnung der westlichen Überflussgesellschaft entwickelte.
Wer heute nach den Ursachen für die fatale Wut auf die „Besser-Wessis“ und den Erfolg der AfD in den Neuen Bundesländern forscht, wird schnell auf dieses Minderwertigkeitsgefühl und den daraus resultierenden Trotz und Frust stoßen, so Göring mit Blick auf die Generation 1975. „Sie waren Jugendliche, steckten mitten in der Pubertät als die Mauer fiel und mussten erleben, wie ihre Eltern arbeitslos wurden, wie alle ihre Werte zerfielen“.
Genauso alt wie Leo, dieses besondere, hochmusikalische Kind von Anne und Thorsten. Leo, wissbegierig und begabt, wie sein Patenonkel Fabian. Leo, der Wunsch-Sohn? In jedem Fall „eine total spannende Figur“, die in seinem nächsten Roman über die „Generation 1975“ wieder auftauchen wird. „Ich habe mehr angelegt als zu klären“, sagt der Autor schmunzelnd. „Deshalb gibt es auch mehr Möglichkeiten der Interpretation“.
Wohl wahr! Man kann „Dresden“ als Liebesroman lesen, als Freundschaftsgeschichte, als Fabians „Reifeprüfung“. Und als Abgesang auf die DDR. Michael Göring ist hier das Sittengemälde eines Teils Deutschlands gelungen, das immer mehr in Vergessenheit gerät. So wahrhaftig und klar, wie Leos Sprung auf das Fis bei seinem großen Soloauftritt am 1. Oktober 1989. Am Tag, als die ersten Flüchtlingszüge aus Prag in Richtung Westen rollen.
Michael Göring: Dresden – Roman einer Familie
Osburg Verlag
300 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN 978-3-95510-243-2
YouTube-Video:
„Dresden. Roman einer Familie". Eine kurze Lesung aus dem 6. Kapitel (12:49)
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