Zu lachen gibt es wenig in diesem Buch „Vom Aufstehen“, dennoch ist es kein trauriges Buch.
Es ist ein Buch voll zärtlicher Melancholie. Andererseits ist es aber kein durch und durch melancholisches Buch und erst recht kein Buch, das aufgrund seiner Melancholie die Grenze zum Kitsch schrammt, rammt oder übertritt. Was es ist: es ist ein kluges Buch.
Zu Recht ist die mecklenburgische Autorin Helga Schubert, mit dem titelgebenden Text zur Bachmann-Preisträgerin 2020 gekürt worden. So klug und so berührend erzählt sie „Ein Leben in Geschichten“ – so der Untertitel, dass ihr Leben in Geschichten nun für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert war. Es sind Lebensgeschichten, die Trauriges berichten, ohne zu lamentieren, die vom Schönen eher beiläufig sprechen und in denen das Selbstverständliche das Leben selbst ist. Das Leben wird genommen, wie es ist, es wird in Buchstaben gesetzt, in Wörter, Sätze, so dass dieses ganze gelebte Leben sich trotz aller negativen Einflüsse positiv ausbreiten kann wie ein entfalteter, bunter, wunderschöner Fächer.
In ihrem autobiographischen Buch erzählt die 80-jährige Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert von dem, was ihr Leben geprägt hat. Sie erzählt von unbeschwerten Sommern bei der Großmutter, von ihrer Kriegs-und Flüchtlingskindheit, vom Alltag in der DDR und von ihrer hartherzigen Mutter, vom Tod des Vaters, der als junger Mann von 28 Jahren im Zweiten Weltkrieg von einer Granate zerfetzt wurde. Was bleibt, ist die hartherzige Mutter. Drei Heldentaten habe sie in ihrem Leben vollbracht, erklärt die Mutter ihrer Tochter: Sie habe sie nicht abgetrieben, sondern im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenommen. Und sie habe sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen. Welches Kind könnte nach solchen Aussagen noch Liebe zur Mutter entfalten? Das kann – wenn überhaupt – erst viel später geschehen, wenn das verletzte, kindliche Ich längst erwachsen geworden und bereit ist zu verzeihen. Dann gelingt es einer so großartigen Schriftstellerin wie Helga Schubert es ist, die Ängste und Verletzungen von einst in so eindringliche Sätze wie diesen zu kleiden: „Ihre Tochter, die von meiner Mutter geschlagen wurde, manchmal einfach, weil sie da war oder hustete oder abends im Bett weinte als kleines Kind. Meiner Mutter schien es, dass dieses Kind unzufrieden mit ihr war.“
29 Geschichten sind es, größtenteils aus der Ich-Perspektive erzählt, allesamt ohne Pathos. Letzteres ist dem Leben in der DDR geschuldet. Es hat Helga Schubert misstrauisch gemacht gegenüber allem Schönklingenden. Wie sie erzählen will, das beschreibt sie auf den ersten Seiten des Buches: „Mit Selbstironie, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem ersten Satz, der die Pointe unmerklich vorbereitet (…) Nichts Eindeutiges, Belehrendes, Aufklärerisches. Vor allem ohne Pathos.“ Zum Glück für uns LeserInnen klingen ihre Geschichten dennoch schön. Eine besonders schöne, klangvolle Geschichte lesen wir gleich zu Beginn. Es ist die titelgebende Geschichte „Vom Aufstehen“, in der die kleine Helga uns ihre Heimat zeigt, den Ursprung der Geborgenheit, die sie trotz allem hin und wieder empfunden hat und heute nachempfinden kann. „Mein idealer Ort ist eine Erinnerung“, heißt es dort. Es ist eine Erinnerung an den jeweils ersten Tag der „langen, wunderbaren Sommerferien“. Eine Erinnerung „an das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter“. Mit diesem Text „Vom Aufstehen“ gewann die 80jährige Autorin den 44. Ingeborg-Bachmann-Preis im vergangenen Jahr.
Im Mittelpunkt dieser den Auftakt gebenden Geschichte stehen eine Mutter und ihre Tochter. „Ich musste 80 Jahre werden, um das schreiben zu können“, sagt die Autorin im Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Die Geschichte über die Mutter sei etwas, das sie mit vielen Altersgenossen gemeinsam habe, „diese Mütter, die alle ohne Männer groß geworden sind und die alle in der Nazizeit schon berufstätig waren“. Sie habe alles, was ihr passiert und vergleichbar mit den Erfahrungen anderer aus ihrer Generation sei, beschreiben wollen, so Helga Schubert. Als Mutter und Tochter einmal beim Brotschneiden nebeneinander in der Küche stehen, da „sagte meine Mutter nach einem Vierteljahr zu ihrer Tochter, die noch stillte, ganz ruhig: Wenn du doch damals nach der Flucht gestorben wärst. Das hatten beide bis zum Tod meiner Mutter nicht vergessen. Und die Tochter meiner Mutter vergisst es bis heute nicht.“
Im Buch kommen ihr Haus in Mecklenburg, die Landschaft, der Ehemann und der benachbarte Bauer, der sich eines Tages aufhängte, ebenso vor wie ihre Kindheit, die hartherzige Mutter, Sohn und Enkelin, das eigene Altwerden und das der anderen sowie die Vorliebe für gute Gerüche. Das alles ist, wie gesagt, völlig kitschfrei erzählt, aber wunderschön melancholisch. Der Autorin beschreibt mit klarer Sprache und kurzen Sätzen „Das Hinsehen und das Erschrecken, dass in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist, dass jeder, auch die, die schreibt, gut und böse ist, erschöpft und wach, verzeihend und nachtragend, hasserfüllt und liebend, verletzend und verwundbar.“
Die, die schreibt, hat ein Lebensthema: die Geborgenheit. Ihre Sehnsucht danach erfüllt sich an der Nordsee. „Ebbe und Flut sind berechenbar, das finde ich so wunderbar. Man kann sich auf etwas verlassen, in seiner ganzen Existenz verlassen. Trotz Sturm und stechendem Sand im Gesicht. Das Wasser kommt und geht.“ Helga Schubert, die in der DDR aufgewachsen und dortgeblieben ist – heute also in der ehemaligen DDR lebt, genauer gesagt, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Wismar namens Alt Meteln, ist dank ihrer Leben- und Berufserfahrung als Psychologin, dank ihrer Lebensweisheit geradezu gefeit gegen die Niederungen der Kunst. Sie ist gefeit gegen Kitsch, Pathos, Lächerlichkeit. Vielleicht ist sie sogar gegen die Hölle gefeit. Beschritten und durchschritten hat sie diese Hölle, die das liebe Leben ja auch sein kann, gewiss das eine und andere Mal. Vielleicht ist sie dabei auch gestolpert, gefallen, gestürzt. Doch sie ist immer wieder aufgestanden und möglicherweise unbeschadet an Leib und Seele immer wieder daraus hervorgegangen. So könnte es sein. Auch davon erzählen diese lesens- und liebenswerten Alltagsgeschichten „Vom Aufstehen“. Es könnte übrigens durchaus sein, dass im Westen Geborene nach dieser Lektüre die Bewohner der ehemaligen DDR (noch) besser verstehen, sich verbundener fühlen, mitmenschlicher. Auch das spricht für dieses Buch.
Helga Schubert, Vom Aufstehen - Ein Leben in Geschichten
dtv 2021
Gebunden, 220 Seiten
ISBN 978-3-423-28278-9
Hörbuch
5h 08min. Vorgelesen von Ruth Reinecke
Argon Verlag GmbH
ISBN: 3839818958
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