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Weniger Roman, mehr Recherchetagebuch: „Aus der Zuckerfabrik“ von Dorothee Elmiger mäandert essayistisch-fragmentarisch von Szene zu Szene. Ein Erzähler-Ich notiert Beobachtungen, Begegnungen und Begebenheiten, mischt Faktuales und Fiktives, und entwirft dadurch ein Sammelsurium an Gedankensplittern, Momentaufnahmen und Materialansammlungen zu Südseesehnsüchten, Kolonialisierungsmacht und ungestilltem Appetit.

Es sind reale Begebenheiten, die Dorothee Elmigers Werk zugrunde liegen.


Ein Sanitärinstallateur aus dem Berner Oberland gewinnt 1979 im Lotto, eine Rekordsumme von 1.7 Millionen Franken; allerdings dauert es nicht lange, bis er das Geld wieder verspekuliert hat und er sich derart verschuldet, dass sein Besitz nur wenige Jahre später versteigert wird.

 

Ein Thurgauer zieht an die Elfenbeinküste und baut dort eine der größten Plantagen für Ananas auf, was ihm den Titel „Ananaskönig“ einbringt. Ein Bürgerkrieg, der Preiseinbruch der Südfrucht und ein missglückter Kredit lassen auch ihn scheitern – zumindest vorerst, bis er in Costa Rica neu beginnt.


Ein Schweizer Schnapsbrenner aus Rotkreuz wandert in die Dominikanische Republik aus und kauft dort eine Farm, nach knapp einem Jahr geht er ebenfalls pleite. Er bleibt in der Karibik und hält sich dort mit seinem Bauernhof mehr schlecht als recht über Wasser; nach seinem Tod kehrt seine Familie in die Schweiz zurück.

 

Dorothee Elmiger Zuckerfabrik COVER„Zucker, LOTTO, Übersee“, bemerkt das Erzähler-Ich, seien die „behelfsmäßigen Erklärungen, wenn jemand fragt, woran ich arbeite“. Man merkt: Ebenso gut könnte es sich hier um eine Notiz von Dorothee Elmiger selbst handeln, die hier zu einem spricht. Denn ihr Roman, wenn man „Aus der Zuckerfabrik“ überhaupt so nennen kann, ist weder zu einer sachbuchartigen noch fiktiven Verarbeitung dieser Auswandererträume geworden, ist noch nicht einmal lineare Erzählung im eigentlichen Sinn. Stattdessen eröffnet die Autorin gewissermaßen Einblicke in eine Vorstufe schriftstellerischen Schaffens, indem sie ihre Recherchearbeit literarisiert. Gesammelt wird hierbei alles mögliche: Fundstücke aus der Forschung und Publizistik, Berichte von historischen und zeitgenössischen Personen, Zitate aus Literatur, Filmen, Kunst, Musik.

 

Zu dem archivarisch Erkundeten gesellt sich das eigens Erlebte: Da werden Gedanken und geführte Gespräche notiert, Überlegungen, Beobachtungen und Träume geschildert, und dies alles immer wieder gemischt mit tagebuchartigen Einträgen aus einem Alltag der recherchierenden Figur („Nachricht aus Frankreich: Ich soll im Winter an einer Schule in einem Pariser Vorort über meine Arbeit sprechen“). Was hiervon wirklich Dorothee Elmiger ist und was nicht, bleibt unentschieden; entworfen wird jedoch ein fortwährendes Wechselspiel zwischen berichtendem und erzählerischen Gestus.

 

Es geht also nicht um ein fertiges Produkt, sondern um das Darstellen einer Suche und das Zur-Schau-Stellen eines Arbeitsprozesses. Dabei zeigt sich jedoch kein Pfad und keine feststehende Ordnung, vielmehr handelt es sich um „einen Platz, einen Punkt, […]; seither habe ich alles, was mir in die Hände fiel, alles, was ich so sah, das in einem Zusammenhang mit diesem ersten Ort zu stehen schien, dorthin zurückgetragen und vorläufig abgestellt“, heißt es im Buch. Dieser gedankliche Ort findet seine sinnbildliche Konkretisierung im leeren Parkplatz New World Plaza des US-amerikanischen Philadelphia. Das dort nebeneinander Versammelte schlägt sich in seiner sprachlichen Aufbereitung dann auch in Kapitelgliederung und Schriftbild nieder, wenn manche Absätze nur einzeilig sind und die meisten kaum mehr als zwei Seiten füllen. „Aus der Zuckerfabrik“ bleibt eine ungeordnete Sammlung, eine unfertig anmutende Überschau. Am nächsten kommt diese Art des Schreibens vielleicht jemandem wie Rolf Dieter Brinkmann in der sprunghaften Aneinanderreihung von Momentaufnahmen. Vieles ist fragmentarisch belassen, auch wenn zirkelnde Bewegungen ab und an auf dieselben Szenen zurückkreisen.

 

Übersee: also Sehnsuchtsort. Aber die Karibik lässt sich nicht ohne Kolonialismus denken. Der Zucker markiert bei Elmiger das sinnbildliche wie tatsächliche Bindeglied zwischen den Kontinenten; die Zuckerproduktion, die Unbekannte über Zeit und Raum hinweg verbindet – auf Plantagen produziert und von europäischen Lohnarbeitern konsumiert. Notizen zu Kolonialisierung bei Marx und Edward Gibbon Wakefield reihen sich an Gesprächsfetzen über überseeische Sklaven, europäische Proletarier und die Versprechungen des Kapitalismus, nicht zu vergessen die zahlreichen Referenzen auf Heinrich von Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“.

 

Neben weiteren anekdotischen Ausflügen zu Zuckeressern wie Adam Smith und Chantal Ackermann oder zur Zuckerwassertrinkern Marie Luise Kaschnitz findet sich aber auch noch ein anderes leitmotivisches Zirkeln in der „Zuckerfabrik“ wieder: das Begehren, die Lust. Da ist der anonyme „C.“, dessen Aufmerksamkeit und Nähe das erzählende Ich fortwährend sucht, da sind One-Night-Stands und erotische Fantasien, die in anonymen Chatforen ausgetauscht werden. Heißhunger, ungezügelter Appetit, körperlicher und sinnlicher Genuss wie auch exzessiver Konsum werden damit zu einem erweiterten Modus der Erzählbewegung.

 

Will man „Aus der Zuckerfabrik“ lesen wie einen Roman, dann wird es anstrengend; vielleicht wäre es besser, sich gleich auf ein Durchstreifen zu einigen, wo man sich die ein oder andere Stelle anstreicht, anderes auch schneller überfliegt, hin- und herblättert und eigene Verbindungslinien malt. In einem derartigen Durchblättern der dargebotenen „Zucker“-Mappe mit ihren Kopien, Anmerkungen und Notizen findet sich dann nicht mehr nur das Verstrickte verstreuter Dinge, sondern ein Überangebot an Reflexionen, Bezügen und Gedankenanstößen.


Dorothee Elmiger: „Aus der Zuckerfabrik“
Roman
Hanser 2020, München
Gebunden, 272 Seiten
ISBN: 978-3-446-26750-3

 

Leseprobe 

 

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020, Shortlist
Nominiert für den Bayrischen Buchpreis 2020
Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2020

 

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