In seinem vierten Gedichtband „nachts leuchten die schiffe" beschäftigt sich Nico Bleutge mit unserer realen Welt in sieben Zyklen. Wie ein Jongleur wirft der Lyriker gefundene Wörter in die Luft, fängt sie auf, formt und fügt sie neu. So entsteht ein phantastisches, wahrhaftiges Gedicht, das eingereiht in einen Zyklus, Teil eines klangvollen, rhythmischen, facetten- und farbenreichen Sprachgemäldes wird.
Diese Sprachbilder bezeugen die feine Beobachtungsgabe des mehrfach preisgekrönten Lyrikers, und seine Sprachfunde erregen unsere Aufmerksamkeit.
Am Gestade des Bosporus hat Bleutge während eines Aufenthaltsstipendiums auf die passierenden Schiffe geschaut, hat meditiert und sich inspirieren lassen für seinen titelgebenden Zyklus „nachts leuchten die schiffe“:
„und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend/auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie/die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz/in die gebäude dringen, die frachthallen sprengen/" (S.9)
In den sieben Zyklen „nachts leuchten schiffe“, „weißes knirschen“, „stimme tauschen“, „flugsand“, „mit lungenschlag und schwarzen flecken“, „grasen mit grisu“ und „gradierwerk“ erzählt Nico Bleutge von stillen und lauten Gewässern, von im Wasser lebenden Pflanzen, von Muscheln und Steinen, aber auch von Menschen, Tieren, Gewächsen und Dingen an Land. Er lässt uns teilhaben an seinen Sinneseindrücken, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die bis in die Kindheit zurückreichen.
„die erinnerungen drehen, dehnen sich langsam / als wären sie luftfäden“ (S.7)
Ja, die Erinnerungen drehen und dehnen sich langsam bei Nico Bleutge. Das klingt bereits auf der ersten Seite dieses Lyrikbandes an. Der Dichter erwartet Geduld von uns und Zeit. Nur dann können wir „die verwandlung durchspüren“ (S.13):
„wenn du lange genug wartest / wachsen die schalen auf dem tisch weiter / und die blätter in der hand werden zu gras / in dem du selber sitzt. Greif ins holz, ein paar fäden“ (S.11)
Viel Licht ist in diesen Gedichten Bleutges zu entdecken. Immer wieder taucht es auf:
„als würde das licht sich / verstärken / wege wie luft in den raum zeichnen“ (S.8)
Viel Schatten ist auch dabei:
„wahnsinnig einsam / granatfeuer glüht, darin elender frost wohnt / total zerschossen, ohne gefühle“ (S. 21)
Natürlich sind auch Schatten zu finden in den Gedichten! Denn die Wörter sind nicht einfach aus der Luft gegriffen: Sie sprechen von den realen Dingen dieser Welt und von deren Verwandlung innerhalb der Zeitläufte und der Zwischen(t)räume.
„nie müde werden, bedürftig / selbst als wolf, heißt es, baumrinde fressen“ (S.23)
heißt es zu Anfang eines Gedichts, einer Seite. Und am Ende:
„drei fragen stellen. die erste lautet: wie“
Nico Bleutge stellt Fragen und stellt fest. Er spricht in leisen Tönen, denen der Leser gut zuhören soll und muss, um sie zu verstehen. Dies auch deshalb, weil der Autor in einer Sprache spricht, die nicht immer leicht zugänglich ist. Doch wenn der Leser sich Zeit nimmt, dann wird er Zugang zu all den Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten finden, mit denen der Dichter uns teilhaben lässt an seiner feinfühligen, feinsinnigen Wahrnehmung der Welt. Dieser Zugang wird – wenn erst einmal hergestellt – umso intensiver sein und den Wunsch nach sich ziehen, immer tiefer in diese kraftvollen poetischen Sprach- und Spiegelbilder einzutauchen. Einzutauchen in diese Bilder, die Altes aufgreifen (auch Worte fremder Dichter) und Neues (wie die Verwandlung des einstigen Sehnsuchtsortes Meer) einfügen.
Wer sich auf die poetischen Spiele des Dichters einlässt, wird reich belohnt. Zu Recht gehört „nachts leuchten die Schiffe“ zu jenen zehn deutschsprachigen Lyrikbänden, den ein erlesener Kreis von Kritikern und Lyrikern zu den besonders empfehlenswerten Lyrikbänden 2018 gewählt hat. Diese alljährlich im März erscheinenden Lyrik-Empfehlungen werden herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und dem Haus für Poesie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband. Eine hochkarätige Jury also, auf die man sich getrost verlassen darf. So auch im Falle Nico Bleutge, dessen große, rhythmische Kraft den Leser gefangen nimmt.
Es sind unter anderem die Übergänge zwischen Tagzeit und Nachtzeit, zwischen hell und dunkel, die Bewusstseinsgrenzen zwischen Traum, Schlaf und Wachzustand, die uns in diesen Texten ebenso berühren wie der ewige Kampf zwischen Mensch und Natur. Große Namen der literarischen Tradition wie Alfred Döblin, Annette von Droste-Hülshoff, Heiner Müller oder Inger Christensen haben Eingang in Nico Bleutges Texte gefunden und können herausgelesen werden. Doch das muss der Leser gar nicht: er zieht dennoch großen Gewinn aus der Lektüre. Manche Wörter muss man zwar googeln, um den Kontext zu verstehen. Doch auch das ist ein Gewinn, lohnt sich also. Was man nicht muss: bei jeder Zeile nach dem Sinn fragen. Man kann sich getrost vertrauensvoll dem Fluss dieser Verse hingeben.
Nico Bleutge ist zu Recht ein vielfach ausgezeichneter Lyriker. Wobei er die Preise sicherlich nicht erhalten hat, weil er es den Lesern leicht macht, seine Gedichte zu lesen, zu lieben, zu verstehen. Eher aus folgenden Gründen: Bleutge verstehe „sich auf eine poetische Erkundung vornehmlich von Licht und Wasser, auf die Verwandlung poetischer Romantik ins Gebrauchsformat von Industriezonen, Stückverkehr und Transportmonstern. Das Wetterleuchten auf globalen Wegen mischt sich mit Seelenechos aus der Kindheit, das Zitatgemurmel fremder Stimmen mit eindrücklichen eigenen Bildern. Nico Bleutge arbeitet an einer poetischen Übung im Lauschen und Memorieren, an einer modernen Erfahrungsseelenkunde, die sich auch der Technik und dem Gestaltwandel der sprachlichen Bilder öffnet." So formulierte es die Jury des mit 20.000 Euro dotierten „Kranichsteiner Literaturpreises“. Diesen Preis erhielt Nico Bleutge 2017 für sein lyrisches Werk vom Deutschen Literaturfonds für sein bisher vier Bände umfassendes lyrisches Werk unter besonderem Augenmerk auf die neueste Sammlung „nachts leuchten die schiffe“.Zu Recht: Diese Gedichte sind ein Gewinn.
Nico Bleutge, nachts leuchten die Schiffe. Gedichte
C.H. Beck Verlag, München, 2017ISBN 9783406705335
Gebunden, 87 Seiten.
Nico Bleutge, 1972 in München geboren, lebt in Berlin. Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Erich-Fried-Preis 2012, dem Christian Wagner-Preis 2014, dem Eichendorff- Literaturpreis (2015), dem Alfred-Kerr-Preis (2016) Casa Baldi-Stipendium der Deutschen Akademie Rom (2015) und dem Stipendium der Kulturakademie Tarabya, Istanbul (2014/16).
Quelle: C.H. Beck
Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Claus Friede
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