Am 20.3. hat der zweifache Oscar Preisträger (2007, 2016), renommierteste Orchesterdirigent Italiens und weltberühmte Komponist von über 500 internationalen Film- und TV-Musiken Ennio Morricone die Leser eines Kurzinterviews der „HuffPost“ mit dieser Aussage provoziert: „Die Musik hat für mich einen absoluten und herausragenden Wert, aber in diesen Zeiten gar keinen mehr. Die Balkonkonzerte gefallen mir, aber in einer Lage wie dieser finde ich sie unangebracht“.
Aus seiner römischen Wohnung, die er zusammen mit seiner Ehefrau Maria derzeit nicht verlässt, berichtet Morricone, dass er dieser Tage vor allem schreibe, lese und die Nachrichten verfolge: „Ich komponiere nicht und höre auch keine Musik. Das ist nicht der richtige Augenblick“. Ob er Angst habe, fragt ihn sein Interviewer Giuseppe Fantasia. “Ja, natürlich: wie alle“, antwortet der 91-Jährige. Er sei kürzlich sehr besorgt wegen einem seiner Söhne gewesen, doch es gehe ihm inzwischen wieder gut. Er selbst nutze die Pandemie dafür, zu Hause wieder Zeit und Ruhe zu finden, seine Beziehungen zu intensivieren und zu sich selbst zu finden.
Morricone berichtet, er bewundere Papst Franziskus dafür, dass dieser kürzlich zu Fuß im menschenleeren Zentrum von Rom die Kirche des Heiligen Marcellus (San Marcello) in der Via del Corso aufgesucht habe, um für die Corona-Opfer und alle Betroffenen zu beten. Als Morricone gefragt wird, wie er hingegen die Gesangs- und Tanz-Flashmobs an den Fenstern fände, entgegnet er: „Einerseits gefällt es mir, dass viele von ihren Balkonen aus miteinander singen und dabei Fähnchen schwingen. Andererseits halte ich es für unangebracht“. Auf die Nachfrage, ob dies für ihn denn keine Signale von Lebensmut und Hoffnung seien, meint Morricone: „Natürlich kann etwas Leichtigkeit nützlich sein, kein Zweifel, aber in diesen Tagen haben wir sehr hohe Sterberaten zu verzeichnen, und diesem Umstand sollte man doch eher mit Respekt begegnen. Ich frage mich, was all diese Leute in solchen Momenten eigentlich denken. Meiner Meinung nach denken sie nur an sich selbst“.
Welche goldene Regel er denn befolge, will Fantasia wissen. Morricone meint kurzangebunden: „Eine einzige: sich ruhig verhalten“. „Was raten Sie denn den Leuten zu tun?“, fragt Fantasia nach. „Ich habe es Ihnen doch schon gesagt“, antwortet Morricone in seiner nur äußerlich brüsk erscheinenden, wenngleich nicht unfreundlichen Art: „ruhig bleiben!“.
In Wirklichkeit bevorzugt das römische Musikgenie statt Worten die Noten seiner Musik, mit der es ihm in so vielfältigen Werken, Genres, Kompositionen und Kontexten gelungen ist, Geschichten mit universellem Charakter zu erzählen und rund um den Erdball zu verbreiten. Wie viel Tiefe, Hingabe und Reflektion in diesem Mann und seiner Musik stecken, verrät Morricones letztes Statement, das er noch nachschiebt, nachdem sich Fantasia mit einem einfachen „Danke“ bereits von ihm verabschiedet hat. „Ich möchte mich bei Ihnen bedanken“, pariert Morricone elegant und fügt abschließend selbstbescheiden an: „Sie müssen mir bitte verzeihen, wenn meine Prosa in dieser Lage nicht ganz so brillant ausgefallen ist“. – Vor der Schwelle des Todes und der Übermacht einer ansteckenden Krankheit wie Corona verneigt sich auch ein Maestro: demütig, für seine Verhältnisse geradezu eloquent und eben durch diese fast schüchterne Understatement mit Größe.
Das Interview von Giuseppe Fantasia mit Ennio Morricone ist im Kulturteil der „Huff-Post“ am 20. März 2020 auf Italienisch erschienen und online abrufbar
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