Musik

Aufwändig hergerichtet war die 4.000 Quadratmeter große nördliche Deichtorhalle, rundum mit klinisch weißen Vorhängen abgeschottet von der Außenwelt. Dazu eine weiße Bühne, der Laborraum für emotionale Experimente mit dem knapp tausend Zuschauern auf einer provisorischen Tribüne. Auch das Laborpersonal – die Umbau-Komparsen, die Philharmoniker Hamburg, die Audi Jugendchorakademie, die Solisten und Dirigent Kent Nagano – traten ganz in Weiß gekleidet an.

Während Chor und Orchester hinten auf der Bühne Bachs „Matthäus-Passion“ sangen und spielten, wurden im Bühnenvordergrund in ritueller Langsamkeit immer neue Objekte in die Mitte geschoben und wenig später – nach Gebrauch oder schlichter Anschauung – wieder hinaus geschoben. Gedacht waren sie als eine Art Stolperstein, die in Beziehung zum Publikum treten, etwas mit ihm, seinen Gedanken und Gefühlen anstellen und deren Richtung ändern könnten.

Achtzehn Szenen wurden auf diese Art zwischen Publikum und Musik gerollt. Eine Marmorbüste des römischen Kaisers, der zur Zeit des Passionsgeschehens im Amt war. Ein Chemikalienkanister – weil bei der Verwesung Ammoniak entsteht. Der Schädel eines Selbstmörders aus der Rechtsmedizin des UKE. Die nachgekochte letzte Mahlzeit, die ein Sterbender vor seinem Tod zu sich genommen hat. Ein kompletter ausrangierter Bus, auf die Seite gekippt. Ein nachgemachtes Osterlamm, aus dessen Brust das Blut fließt. Zwei Ringer (griechisch-römisch). Ein Zehn-Meter-Baum, der entastet wird. Zwei Polizisten, die dabei zuschauen. So geht es bis zum 18. Bild nach dem Schlussakkord weiter – eine Maske des Evangelisten Ian Bostridge im Stil von Edvard Munchs berühmten vier Gemälden „ Der Schrei“.
Auf ihren Stühlen finden die Zuschauer eine Broschüre. Mit der Aufforderung, sie während der Aufführung zu studieren. Wer aber möchte während einer Bühnen-Performance ständig lesen? Zur Sinn-Hilfe beim Entschlüsseln von Castelluccis Rätselbildern? Meine Sitznachbarn schüttelten jedenfalls immer wieder den Kopf, auch nach dem Studium der geradezu wissenschaftlich exakten Beschreibung der Sinnschnipsel und ihrer Zutaten (zum Beispiel „Ausgestopftes Lamm, Formaldehyd, Harz, Eisen, Kunstblut, Pumpe“) und dessen, was da auf die Bühne gerollt und wieder fortgerollt wird.
 
Irgendwann setzt sich der Gedanke fest: Das permanente Hinein/Hinaus stört meist
Man möchte Bach hören. Einfach Bach – ohne Bus, ohne Lamm und ohne Ringer. Denn Bachs Musik hat verlässliche Kraft, Erklär- und Erkenntnistiefe, reichlich Gefühl und nimmt ihre Zuhörer gewisslich mit durch das Tal des Leidens.
Castellucci sieht andere Notwendigkeiten. Was da anrollt, soll bitte als „Stein“ betrachtet werden, der in den Weg gelegt wird, damit man stolpert, aufsteht und nicht in der gleichen Art weitergeht wie bisher. Sagt Opernintendant Georges Delnon. Und in den Handreichungen für die Presse liest man: „Wenn diese Bilder sich in Beziehung setzen zur essenziellen Tiefe der Bachschen Komposition, ist der Weg frei zum Hinhören, zum Abwenden des Blicks, zum Innehalten und schließlich zu der Erfahrung, was ‚Leiden’ wirklich heißt.“ Soweit die Theorie. Leiden aber ist in jeder TV-Reportage aus jedem Kriegs- und Hungergebiet dieser Welt untermittelbarer und unverkopfter zu erleben.
In der Praxis haben nur wenige Bilder von Castelluccis Inszenierung die stille und suggestive Kraft, Denkanstöße zu geben: die letzte Hospiz-Mahlzeit vielleicht, das blutige Laken aus dem Geburtshaus, das gewaschen wird (in einer „Miele Novotronic W 908“ – das wollte sicher jeder wissen). Der Stacheldraht, der elektrolytisch zur Dornenkrone vergoldet wird. Vor allem aber die Jedermann-Kreuzigung, zu der sich Komparsen nacheinander mit ausgestreckten Armen an einer Reckstange festhielten und einige Zentimeter hochgezogen wurden – wie fühlt sich der Schmerz der Kreuzigung an, wie lang halten sie durch, wie lange hielte ich durch. Eine meditative Szene von großer Kraft, die endlich nicht vom Zuhören ablenkte.
Viele von Castelluccis Szenen wirken vor der Klarheit der Musik um viel zu viele Ecken gedacht, manches einfach nur belanglos. Und was die gelobte Anmutung der Deichtorhalle als „weltliche Kathedrale“ zusätzlich brachte, das nicht auch Kampnagel hätte leisten können? Selbst das Knarren, Knarzen, Klackern und Quietschen der Tribünenkonstruktion ist nicht neu. Auch warum die zweidreiviertel Stunden der Passion ohne Pause durchgesessen werden sollen, erschließt sich nicht – an einem großen Spannungsbogen, der nicht gestört werden darf, kann es jedenfalls kaum liegen. Ob man sich einfach dachte: ein bisschen Gethsemane muss sein?
 
Naganos Interpretation hätte durchaus für sich allein bestehen können
Dass es dann doch ein Abend wird, der in mehr als guter Erinnerung bleibt, ist den 40 Instrumentalisten der Philharmoniker Hamburg und den 80 gut Chorsängern der Audi Jugendchorakademie samt den sechs Solisten statt, die Bachs Werk unter der Stabführung von Kent Nagano zu einer bemerkenswerten Aufführung verhalfen. Wobei die weißen Vorhänge für eine gute Akustik in der ehemaligen Markthalle sorgten.
Nagano balancierte den Klang fein und trotz der großen Besetzung sehr schlank aus, setzte vor allem auf Klarheit und Transparenz und höchste Textverständlichkeit. Keine opernhaft hochdramatisierten Volksszenen, es wehte fast ein Hauch von der Zurückhaltung des Chronistenberichts durch alle Formen des Oratoriums. Wobei Ian Bostridge als Evangelist für eine ganz dem Sprachrhythmus folgende, mit wenigen Spuren Drama versetzte Erzählung des Geschehens steht, mit runder, weicher Luxusstimme, der man fast hypnotisch zuhört, die sich aber hin und wieder in den Höhen nicht ganz dem Willen ihres Besitzers fügte. Erkältung? Überanstrengung? Bassist Philipp Sly sang die Christusworte, Hayoung Lee und Christina Gantsch (beide Sorpan), Dorottya Láng (Alt) und Bernard Richter fügten sich makellos in den solistischen Wohlklang ein.
Nagano bevorzugte eigentlich zügige Tempi, ließ sich bei manchen Arien aber auch fast meditativ Zeit, nahm seine Gestik manchmal bis zum bewegungslosen Zuhören zurück. ein überzeugendes Konzept von großer Innerlichkeit, die ja auch in den reflektierenden Arien angelegt ist. Seine Interpretation hätte durchaus für sich allein bestehen können und keine optischen Stolpersteine benötigt, an denen sich die Haltung tiefen Zuhörens kondensieren soll. So erweist es sich denn im Nachhinein als prophetische Geste, dass der Maestro, bevor er zum Dirigentenpult schritt, symbolisch seine Hände wusch. In Unschuld?

Das 2. Internationale Musikfest Hamburg bringt bis zum 22. Mai viele Highlights nach Hamburg.
Das komplette Programm finden Sie unter
www.musikfest-hamburg.de

Weitere Vorstellungen: Do, 21.4. und So, 24.4., jeweils 20:00 Uhr. Für beide Vorstellungen gibt es noch Restkarten. Kartentelefon: (040) 3568 68


Abbildungsnachweis:
Foto Header: Copyright: Bernd Uhlig

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