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Kultur, Geschichte & Management

Der Riga Summit entstand dieses Jahr aus einer Verschmelzung zweier Konferenzen, der Multilingual Europe Technology Alliance (META-Net) und der Connecting Europe Facility (CEF). In den historischen Räumen der Lettischen Gesellschaft konnten die Konferenzteilnehmer der in der Sprache verankerten lettischen Kultur sowie neuesten Web-Initiativen im europäischen Vergleich nachspüren. Das im Stil der Dreißiger Jahre innen und außen baulich nachträglich verzierte und seit 1991 wieder seinem ursprünglichen Zweck als Austragungsort von Konzerten, Theateraufführungen oder politischen Banketten zugeführte multifunktionale Gebäude, gegenüber des zentral gelegenen Vermanes Parks im Universitätsviertel, gilt als Wiege der lettischen Linguistik. Wo einst die Mitglieder der Lettischen Gesellschaft als erste Sprachforscher den syntaktischen und lexikalischen Eigenheiten der lettischen Sprache nachgingen, schlägt, ein Jahr nachdem Riga zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde, der Riga Summit 2015 eine Brücke zu den neuesten Übersetzungstechnologien, die auf Grundlage linguistischer Systeme operieren. Automatisierte Spracherkennungs-, Übersetzungs- und Dialogsysteme waren auf der Konferenz in praktischer Anwendung zu erleben.

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Der kulturelle Reichtum der Europäischen Union kann in besonderer Weise an der Vielzahl der Sprachen gemessen werden, die die kulturhistorische Entwicklung Europas hervorgebracht hat. Diese Vielfalt äußert sich in der mehrsprachigen Kommunikation, die vor allem die technologischen Möglichkeiten der digitalen Medien vor Herausforderungen stellt. 24 offizielle Sprachen gilt es zu beachten, um Wege zu einer gleichberechtigten Verständigung zu finden. Zudem kommen bei jeder einzelnen Sprache Dialekte, Soziolekte, Fachjargons und Slangs dazu, die zur Komplexität beitragen. Ein beträchtlicher Übersetzungsaufwand ist von Nöten, um jeden EU-Bürger in seiner Muttersprache zu erreichen. Hier können Computerlinguistik und moderne Sprachtechnologien einen essentiellen Beitrag leisten, um sprachliche Schranken zu durchbrechen.

Auf dem Riga Summit 2015 wurde deutlich, dass ein verbesserter mehrsprachiger Informationsaustausch die Voraussetzung für die Entwicklung eines europaweiten digitalen Binnenmarktes bildet. Bislang ist er noch in mehrere einzelne, untergeordnete und sprachlich fragmentierte Marktsektoren aufgesplittet, wobei deren Größe von der Verbreitung der jeweiligen Sprache abhängt. Vielversprechend klingen die Vorteile und man ist sich darüber einig, dass es weiterführender Investitionen bedarf, um der lohnenswerten Vision näherzukommen. Ein digitaler Binnenmarkt verspricht größeres Wirtschaftswachstum, viele neue Jobs, eine resistentere Wirtschaft, länderübergreifende öffentliche und Unternehmensdienstleistungen. Bei der Umsetzung sind innovative Methoden gefragt. Márta Nagy-Rothengass, Referatsleiterin der Europäischen Kommission im Bereich Datenverbreitung und -verwertung, informierte über die Zielsetzungen, die für das zukünftige Engagement der EU wegweisend sind. Verbraucher und Unternehmen benötigen, so Nagy-Rothengass, bessere Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Waren und Services. Es gälte die Rahmenbedingungen für digitale Netzwerke und Dienstleistungen zu schaffen, um den Weg für eine europaweite digitale Wirtschaft und Gesellschaft zu ebnen. Kritisch einschränkend müsste man hier hinzufügen, dass – so notwendig das Ziel, eine europäische Datenwirtschaft zu etablieren, auch sicher ist – dadurch noch lange keine kulturelle europäische Identität hergestellt wäre, was die Vorträge, Projektpräsentationen und Gespräche auf dem „Summit“ insgesamt jedoch eher zu vernachlässigen schienen.

Mehr als einmal im Rahmen der dreitägigen Konferenz wurde angemerkt, dass der Zugang zu virtuellen Inhalten bevorzugt in der Muttersprache gesucht wird. Davon sind nicht nur die auf der Konferenz häufig benannten kommerziellen Angebote, sondern auch der Kulturaustausch betroffen. Somit stellt sich angesichts der Multilingualität Europas auch und gerade für Kulturschaffende die Herausforderung, der europäischen Sprachenvielfalt im Netz gerecht zu werden und diese auch in den Arbeitsalltag einfließen zu lassen.

Während die Beiträge aus Lettland im Bereich der Politik und Verwaltung auf das eigene Land und die europäischen Ziele in Zusammenhang mit der sechsmonatigen Ratspräsidentschaft gerichtet waren, positionierte sich der einzige lokale Akteur des privaten Sektors, die Firma Tilde, eher als baltisches Unternehmen mit Büros in Estland, Lettland und Litauen. Der Entwickler von Übersetzungstechnologien ist nicht nur an der staatlichen Anwendung Hugo.lv beteiligt (die sich erklärtermaßen darum bemüht, für lettische Übersetzungen “besser als Google” zu sein, was ihr erfolgreich gelingt), sondern auch an vielen anderen Projekten in ganz Europa.

Tonangebend in den Diskussionen waren jedoch eher westeuropäische Redner und Initiativen, so dass bei aller Multilingualität etwa die große Gruppe der slawischen Sprachen keine Beachtung fand. Doch wird sich der Besucher im Hinblick auf kommende Konferenzen in anderen Städten fragen, ob er dort die baltischen Akteure wiedersehen wird. Hier bleibt zu hoffen, dass die Mahnung des ehemaligen litauischen Außenministers Algirdas Saudargas, seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments, im Gedächtnis bleiben möge: Man dürfe, so Saudargas, sich nicht darauf beschränken, die eigenen Produkte „gut zu verkaufen“ und oberflächliche Informationen zu streuen. Wichtig sei es, „die richtige Botschaft“ zu verbreiten, um sprachliche und kulturelle Missverständnisse zu umgehen, und die ginge „tiefer“: Wir müssen als Europäer, so Saudargas’ Appell, „Brücken bauen“, denen heutzutage ein zentraler Mehrwert zukäme, und Sprachen nicht einfach reproduzieren oder „kopieren“. In einem funktionierenden Europa müssen Sprachen und Kulturen miteinander in Kontakt kommen und sich vermischen, so das Plädoyer des Litauers.

Insgesamt hat Lettland die Chance gut genutzt, um sich zu präsentieren: Mit der Initiative manabalss.lv, einem Portal für Online Petitionen, und dem System Futbol, das die Behördenkommunikation erleichtert, sind gerade im Bereich Partizipation und öffentliches Management zwei Initiativen ganz im Zeichen der digitalen Trends gestartet. So bezeichnet auch Gatis Ozols, Sprecher der E-Service Abteilung des lettischen Ministeriums für Umweltschutz und regionale Entwicklung, die digitalen Themen als Hauptschwerpunkt der lettischen Präsidentschaft.

In Riga suchte manch ein Redner im Zuge seines Vortrags nach Gemeinsamkeiten zwischen seinem Heimatland und Lettland, und fand sie im Falle von Deutschland etwa in Johann Gottfried von Herder, der 1764-69 in Riga gelebt hat, hier zum Freimaurer wurde, was sich für seinen späteren Werdegang als äußerst bedeutsam erwies, und seine erste wichtige Sprachenstudie („Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen“) im „Rigaer Blatt“ von 1764 publiziert hat. Veranstaltet wurde der Riga Summit auch von einer deutschen Organisation: dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) mit Sitz in Berlin-Moabit. Nicht nur deshalb waren Deutsche in Riga stark vertreten. Wie Dr. Georg Rehm, Sprachforscher am DFKI, berichtet, arbeiten im Fachbereich Übersetzungstechnologie auffällig viele, durchaus erfolgreiche Deutsche. Rehm vermutet: „Es könnte damit zusammenhängen, dass Deutschland als Land der Dichter und Denker einen direkten Zugang zu den Befindlichkeiten hat, die mit Übersetzungsproblemen und Übersetzungstechnologien verbunden sind.“ In diesem Sinn kamen nicht nur in den altdeutschen Sprüchen, die die Wände der Kleinen Gilde in Rigas romantischer Innenstadt zieren – Austragungsstätte des Gala-Abends vom „Summit“ –, sondern auch in den vermehrt aus dem deutschsprachigen Raum stammenden Vorträgen des Gipfels die verflochtenen, geschichtlichen und kulturellen Verbindungslinien zwischen Deutschland und Riga als Hansestadt sowie größtem Ballungszentrum im Baltikum zum Ausdruck: Schließlich wurde Riga als Hauptstadt der historischen Landschaft Livlands um das Jahr 1201 von dem Bremer Bischof Albert von Buxhoeveden gegründet.

Ein digitaler Binnenmarkt ohne Sprachbarrieren, das war die Vision dieser Konferenz. Eines Tages könnte in Konferenzen wie dieser jeder in seiner eigenen Landes- oder Regionalsprache kommunizieren und von allen verstanden werden. „Alles wird zu einer multilingualen Schnittstelle“ prophezeit etwa Steve Renals, Professor für Sprachtechnologie an der Universität Edinburgh in seinem Vortrag über Technologien, Nachfrage, Lücken und digitale „Roadmaps“. Eine Utopie? Die über 350 Teilnehmer aus 37 Ländern aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technologie, Medien und Sprachforschung, die den Riga Summit besuchten, arbeiten daran, dass daraus eine Realität wird. Der Weg dahin geht über Interaktion: Communities, Sharing, Crowdsourcing, Schwarmintelligenz – nicht nur Big Data. Doch selbst wenn die automatisierten Übersetzungstechnologien eines Tages perfektioniert sein werden – sie werden menschliche Übersetzer niemals ersetzen, diesen allerdings die Arbeit um Einiges erleichtern können. Auf der Konferenz wurde mehrmals statuiert, dass Wissen wichtiger sei, als die Menge der gesammelten Daten. Etwas verwunderlich mag es gerade in Anbetracht des übergeordneten Themas und bei aller Übersetzungstechnologie wirken, dass diese Konferenz auf dem Podium ausschließlich auf Englisch stattfand. In den Pausen und vielen Gesprächen aber, die sich am Büffet und an den Kaffeetischen im menschlichen Miteinander ergaben, wurde aus der allgegenwärtigen Lingua Franca meist schnell ein Babel aus den verschiedensten europäischen Sprachen, das in ein allgemeines, durch vielfältige Akzente gefärbtes „Globish“ mündete.

Zu guter Letzt bleibt festzuhalten, dass in Europa neben den offiziellen noch viele weitere Minderheitensprachen gesprochen werden. Bei dem Kongress fanden diese jedoch lediglich in Randbemerkungen Erwähnung. Es wäre wünschenswert gewesen, deren Vertreter auch als Sprecher einzubeziehen, um die oft zitierte Vielfalt in den Konferenzräumen des Riga Summits adäquat abzubilden und zu würdigen. Die Besucher des Riga Summits bewerteten es im Übrigen als sehr positiv, dass die Veranstaltung an einem Ort stattfand, an dem Nationalität und Regionalität deutlich sichtbar waren. Das Gebäude der Lettischen Gesellschaft mit seinen Darstellungen lettischer Legenden und Exponaten lokaler Kunsthandfertigkeit war zudem nicht nur Geburtsstätte der lettischen Linguistik, sondern besitzt auch als Dreh- und Angelpunkt der nationalen Erhebung sowie als vereinigendes Zentrum nationaler Kultur und Wissenschaft eine gesellschaftliche, politische, diplomatische und gesamtkulturelle Bedeutung für das baltische Land. Die Besucher konnten dadurch direkt nachvollziehen, was Jānis Ziediņš vom lettischen Kulturministerium mit seiner Forderung zur Online-Archivierung von Kulturgütern auf die digitale Ebene brachte: Die kulturellen Schätze der europäischen Staaten müssen jenseits von sprachlichen und räumlichen Grenzen zugänglich gemacht werden.

Riga Summit Facebook
Meta Net
Connecting Europe Facility
Rigaer Lettische Gesellschaft
The Digital Economy and Society Index (DESI)
Riga Summit Resolution
YouTube Video des Riga Summit vom 27.4.
YouTube Video des Riga Summit vom 28.4.

Wissenschaftliche und textliche Beratung: Dr. Dagmar Reichardt
Lettische Kulturakademie Riga


Abbildungsnachweis:
Header: Stadtansicht Riga, Titelmotiv Riga Summit 2015
Galerie:
01. Eingangsportal Rigaer Lettische Gesellschaft. Foto: Janina Gutermann
02. Jugendstilfenster mit historischer und volkstümlicher Szene in der Rigaer Lettischen Gesellschaft. Foto: Dagmar Reichardt
03. Márta Nagy-Rothengass, Europäische Kommission, DG Connect. Foto: Ivars Maurāns
04. Podiumsdiskussion Riga Summit 2015. Foto: Ivars Maurāns
05. Technoligy Showcase: das tschechische Unternehmen Memsource und ihre Translation Platform. Foto: Janina Gutermann
06. Technology Showcase: Tilde.Com - Interaktion Mensch-Maschine. App und Dialogsystem "Laura" beantwortet Fragen. Foto: Janina Gutermann
07. Algirdas Saudargas, Mitglied des Europäischen Parlaments. Foto: Ivars Maurāns
08. Georg Rehm, DFKI, Senior Consultant, META-NET, Network Manager und CRACKER, Koordinator. Foto: Ivars Maurāns
09. Das Denkmal von Johann Gottfried Herder in Riga nahe dem Domplatz. Foto Norbert Bangert (CC-BY-SA-3.0-DE)

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