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Bildende Kunst

Schön sind sie ja anzusehen: 1.500 gebrauchte, tatsächlich im Mittelmeer von Flüchtlingen benutzte Rettungswesten schwimmen wie bunte Lotusblüten auf dem Teich an der Südseite vom Schloss Belvedere. Sie stammen von Menschen, die die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben und nun in Europa auf Asyl hoffen. Die künstlichen Seerosen ließ Ai Weiwei aus 201 Ringen fertigen, die aus jeweils fünf Westen bestehen. Hier bleibt jeder Wien-Tourist – selbst auf Wanderschaft und möglicherweise migrationserprobt, wenn auch auf vollkommen andere Art – fasziniert stehen. Die Freiluftinstallation „F Lotus“ des namhaftesten chinesischen zeitgenössischen Künstlers ist seit dem 14. Juli im Belvedere-Garten täglich bei freiem Eintritt zu begehen und zu besehen, nachdem der Künstler im Februar 2016 bereits eine erste Schwimmwesten-Installation am Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin erprobt hat.

„F-Lotus“
Die im Wasser in Form eines kalligraphischen „F“ angeordnete Installation aus falschen Seerosen steht für das Überleben unter widrigen Bedingungen und das ungewisse Schicksal von Menschen in Not. Sie besticht durch ihre transkulturelle Symbolik, Komplexität und Vielschichtigkeit. Während die Lotusblüte in China für Reinheit und langes Leben steht, ist die Fünf in Ai Weiweis Heimat eine Glückszahl. Das „F“ ist pure Provokation: Es mag ja durchaus auf das deutsche Wort „Flüchtling“ oder die englische Forderung nach „Freedom“ hindeuten, wie einige Besucher vermuten. Für Ai – so der Familienname des Künstlers – steht das F-Wort freilich für ein aufrüttelndes „fuck“, „fucked“ oder „fucking“ Lotus, wie der österreichische Projektkurator Alfred Weidinger – der zusammen mit der Direktorin des Belvedere und des Museums für zeitgenössische Kunst, 21er Haus, Agnes Husslein-Arco, diese bemerkenswerte Ausstellung inklusive 244-seitigem Katalog in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler realisiert hat – verrät. Insgesamt erhält die Gesamtaussage der Installation, die den Wunsch von einem langen Leben und viel Glück mit der Persiflage eben dieses Wunsches kombiniert, dadurch eine morbide, paradox-zynische, bissig kommentierende, durchaus auch hilflos-verzweifelte Note.

Der Sohn des für die moderne chinesische Lyrik bedeutsamen, ebenso widerständigen wie regimekritischen Dichters und Malers Ai Qing (1910-1996) – zwei Jahrzehnte lang wegen Regimeuntreue in so entlegene Provinzen wie die Mandschurei oder nach Xinjiang strafverbannt, dabei ständigen Repressalien und Publikationsverboten ausgesetzt – ist als „Enfant terrible“ oder politischer Rebell in der internationalen Kunstszene bekannt und geht auch in Wien auf Konfrontation. Dieses Mal legt er den Finger in Europas derzeit größte Wunde: das Flüchtlingsdrama – in Ais eigenen Worten „die größte, schändlichste humanitäre Krise seit dem II. Weltkrieg“. In der Tat. Bereits im Juli, als die Ausstellung eröffnet wurde, meldete die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass 2016 mehr als 3.034 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken seien. Bis Ende Juli erreichten fast 250.000 Bootsflüchtlinge die europäische Küste: die meisten stammen aus Syrien, gefolgt von Afghanen und Irakern. Allein in Italien kamen laut IOM fast 90.000 Migranten an, mehr als 2.600 starben; in Griechenland fast 160.000, und 383 ertranken.

Diese „humanitäre Krise“ ist mit wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Globalisierungsprozessen auf tief reichende und weit verzweigte Weise verflochten. Deshalb ist auch die Schwimmwesten-Installation nur ein Teil von Ais großangelegtem Wien-Projekt, das Werke an verschiedenen Standorten zeigt, um auch den Betrachter zum Ortswechsel zu bewegen. Bereits seit Juni umsäumen zwölf jeweils etwa fünf Meter hohe und rund 500 Kilo schwere monumentale Bronzeinstallationen, deren auf Stelen aufgespießte Tierköpfe die Tierkreiszeichen aus dem chinesischen Horoskop darstellen, U-förmig das Wasserbecken mit den Lotus-Schwimmwesten. Unter dem gleichen Werktitel – „Circle of Animals, Zodiac Heads“ – hatte der Konzeptkünstler die Arbeit bereits 2011 am New Yorker Pulitzer Brunnen auf der Grand Army Plaza nahe des Central Park ausgestellt.

Geschickt verbindet Ai koloniale mit postkolonialer Geschichte, Kunst mit Politik, wobei er stets auch einen Bezug zur eigenen Biographie herstellt und sich dadurch ganz als Künstler der Postmoderne zu erkennen gibt. Es entstehen Parallelen zwischen dem österreichischen hochbarocken Gartenpalais des habsburgischen Prinzen Eugen von Savoyen und der 1860 durch Hand von Briten und Franzosen stattgefundenen Zerstörung einer damals gut hundert Jahre alten, vor dem kaiserlichen Sommersitz in Beijing errichteten und mit einer Wasseruhr ausgestatteten Brunnenanlage, die mit eben jenen bronzenen Tierköpfen verziert war. Ais neue Kopien der alten Skulpturen, die z.T. der Hehlerei zum Opfer fielen oder gar verschollen sind, stellen mit diesen symbolisch geköpften Häuptern sowohl den allmählichen Untergang des Kaiserreichs China als auch die Eurozentrik westlicher Kulturgeschichte zur Schau. Es geht ihm um die Demütigung des chinesischen Volks, das Ende des Zweiten Opiumkriegs, europäische Plünderungen und den Niedergang der kolonialen Wirtschaftsinteressen ebenso sehr wie um das generelle Thema Raubkunst und die Wahrnehmung chinesischen Kulturguts nach Mao Zedongs 1966 einsetzender und mit seinem Tod 1976 zwar offiziell beendeten, aber bis heute noch weithin spürbaren Chinesischen Kulturrevolution.

Im Zeichen des Protests
Die Bronzeköpfe verweisen wie ein Mahnmal auf die – u.a. auf den Lehren von Laotse, Buddha und Konfuzius beruhende – Jahrtausend alte chinesische Kultur, die durch politischen Zwang, Entwurzelung, Vertreibung, Zerstörung von Familientraditionen, Auflösung von Eigentum und im schlimmsten Fall Vernichtung unter Mao nahezu ausgelöscht wurde. Durch die Verlegung des Schauplatzes nach Wien spiegelt der Teich des Belvedere bei Ai Weiwei die kaiserliche Macht – hüben wie drüben, d.h. in China wie in der k.u.k.-Habsburgermonarchie – wider. Gleichzeitig blickt der chinesisch-westliche Künstler nicht nur kritisch auf die Geschichte und Politik seiner Heimat – symbolisiert durch die ortspezifische Arbeit mit den historisch relevanten, bronzenen Tierköpfen des „Circle of Animals“ –, sondern reagiert auch auf gesellschaftliche Realitäten wie die aktuelle Fluchtbewegung zwischen Ländern und Kontinenten, die die von Brunnenufer zu Brunnenufer ausfüllende Schwimmwesteninstallation „F-Lotus“ darstellt.

Vertreibung, Migration und gewollter Ortswechsel als Auslöser transformativer Prozesse ist ein Diskurs, der sich wie ein roter Faden durch Ai Weiweis eigenes Leben und Werk zieht. Er betrifft seine Jugend in China, seine Anfänge als Künstler in New York, seine Rückkehr nach China als der Vater schwer erkrankt war und dann verstarb, und Ais anschließende Migration nach Berlin. Obwohl er bereits 2011 den Ruf nach Berlin erhalten hatte, konnte er seine Tätigkeit als Einstein-Gastprofessor in Deutschland erst mit Beginn des Wintersemesters 2015/16 antreten, da der Menschenrechtler und Dissident nach regierungskritischen Äußerungen im Rahmen der Proteste in China 2011 von April bis Juni 2011 inhaftiert, sein Reisepass trotz weltweiter, auch deutscher, Proteste einbehalten und das Reiseverbot erst 2015 aufgehoben wurde.

Die herabwürdigende Behandlung des Künstlers Ai Weiwei seitens der chinesischen Regierung während und nach seiner Verhaftung am Flughafen von Peking im April 2011 hinterlässt – gerade auch im Zusammenhang seiner Vorerfahrung durch die Deportationen in seiner Kindheit – deutliche Spuren in seinem Schaffen. Auf der diesjährigen Pressekonferenz in Wien wirkte der Künstler nachdenklich berührend, ja abgekämpft, erschöpft. Seine Mutter, berichtete er, habe ihm nach dem Tod des Vaters geraten, mit seinem Leben „etwas anzufangen“. In Wien überlegt er laut, ob die Existenz als Künstler so erstrebenswert sei. Die vielen Reisen machten auch müde.

Die Inhaftierung des an Diabetes und Bluthochdruck leidenden Regimekritikers hatte traumatische Folgen. Minutiös beschrieb er seine 81 Tage andauernde Haftzeit in dem ebenfalls breit angelegten Beitrag „S.A.C.R.E.D.“ für die 48. Biennale in Venedig 2013, indem er seine Zelle nachbaute, sein Leben 1:1 im Netz publik machte und dadurch den Menschen eine Anteilnahme an seinem Leben zur Verfügung stellte. Im – die Ereignisse der Verhaftung bis zur Entlassung aus der Staatshaft 2012 chronologisch rekonstruierenden, gut 2 Stunden währenden – Film „Ai Weiweis’s Appeal ¥15,220,910.50“, der am 23.1.2014 beim Filmfestival von Rotterdam erstmals öffentlich gezeigt wurde, wird deutlich, was es bedeutet, von zwei Wächtern rund um die Uhr, 24 Stunden lang keine Sekunde aus den Augen gelassen zu werden. Zuvor waren bereits in dem auf der Documenta 2012 in Kassel aufgeführten, preisgekrönten Dokumentarfilm „Ai Weiwei: Never Sorry“ von der amerikanischen Filmemacherin Alison Klaymann Ausschnitte aus drei Jahren seines Lebens, darunter ebenfalls die Szene seiner Verhaftung 2011, zu sehen gewesen.

So wie „S.A.C.R.E.D.“ folgt auch Ai Weiweis Kommentierung der europäischen Flüchtlingsfrage seiner Vorliebe, brisante und politische Themen aufzugreifen, die auf unsere Lebenswirklichkeit auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene beträchtlichen Einfluss nehmen. Dabei folgt er dem Motto „Alles ist Kunst – Alles ist Politik“, wofür er sowohl Lob als auch scharfe Kritik erntet. Als er etwa das ikonische Foto des angeschwemmten Leichnams des dreijährigen Syrien-Flüchtlingsmädchens Alan Kurdi am Strand von Bodrum, das die türkische Pressefotografin Nilüfer Demir im September 2015 geschossen hatte und das daraufhin um die Welt ging, auf der Insel Lesbos in Griechenland nachstellte und von Rohit Chawla für die Zeitung „India Today“ aufnehmen ließ, warfen ihm viele Respektlosigkeit, Zynismus und Opportunismus vor – andere lobten seinen Mut.

Ost-West-Dialog im 21. Jahrhundert
Daran gemessen ging die Eröffnung von Ai Weiweis Seeroseninstallation in der Brunnenanlage vor dem Belvedere Anfang Juli beinahe unbemerkt über die Bühne. Das ist zwar schade wegen ihrer künstlerischen Bedeutung, kann aber auch als ein Zeichen politischer Solidarität gelesen werden. Ais Ost-West-Dialog scheint trotz des spannungsgeladenen Verhältnisses zwischen China und dem Westen in der Leitthese „Translokation – Transformation“ (dt. etwa: „Ortsveränderung – Seins-Umformung“ oder schlicht: „Bewegung – Veränderung“), die das Poster zur Ausstellung auf drei Sprachen – Deutsch, Chinesisch, Englisch – abdruckt, in Wien gut aufzugehen.

Das liegt insbesondere an der Breite und Vielschichtigkeit des Projekts, das aus sechs Exponaten besteht: Außer „F Lotus“ und „The Animal Circle“ hat der Ausnahmekünstler zwei Löwenfiguren im Garten platziert und drei große, leicht durch die Luft schwebende, transparent-weiße filigrane Skulpturen, die in der Art traditioneller chinesischer Drachen aus Bambus und Seide von Hand hergestellt sind, in das Treppenhaus des Schlosses gehängt. Die Figuren stellen Fabelwesen aus dem „Shanhaijing“ (dt. „Klassiker der Berge und Meere“) dar – der ältesten überlieferten Sammlung chinesischer Mythologie. Begleitend dazu gibt es im Museum für zeitgenössische Kunst, im 21er-Haus, eine Ausstellung, die sich dem Besucher im Kontext der übrigen Ausstellungsanteile sukzessive erschließt und ihn immer wieder mit China in Europa sowie mit so sensiblen Themen der Gegenwart wie der Meinungsfreiheit im selbsternannten „Reich der Mitte“ und mit der Migrationsproblematik in Europa konfrontiert.

Der in der internationalen Kunstszene sowie besonders im deutschsprachigen Raum gut vertretene Antikonformist – dem von den chinesischen Behörden u.a. Bigamie, illegaler Devisenhandel und Verbreitung von Pornografie vorgeworfen werden, was Ai zurückweist – spielt gern mit den Gefühlen seines Publikums sowie mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen, Medien und Disziplinen. So schuf der vielseitige, kontrovers diskutierte, neugierige und „unbequeme“ chinesische Künstler, nach dem u.a. am 28.11.2010 ein Asteroid benannt wurde – der Stern „83598 Aiweiwei“ –, sowohl Bilder, Bücher, Filme und Häuser, als auch Installationen, Photographien, Performances und Skulpturen.

Das überdachte Gegenstück zu „F Lotus“ ist das Kernstück der Wiener Ausstellung im 21er Haus. Es handelt sich um den historischen Ahnentempel einer bedeutenden Teehändlerfamilie aus der Ming-Dynastie (1368 bis 1644), dessen Haupthalle Ai originalgetreu im 21er Haus – das selbst für die Weltausstellung 1958 in Brüssel als Länderpavillon konstruiert und dann nach Wien verlegt, d.h. „transloziert“ wurde – wiederaufbauen ließ: die „Wang Family Ancestral Hall“. Ai kaufte die Gebäuderuine, nachdem die Familie Wang während der Chinesischen Kulturrevolution aus der südlichen Provinz Jiangxi vertrieben worden war, und transferierte die Tempelhalle als Hauptwerk seiner Ausstellung in den Kunstkontext nach Wien.
Hier erfüllt der imposante Holzbau im 21er Haus nun eine neue Aufgabe und verweist auf die immer noch gegenwärtigen Folgen der Kulturrevolution, selbst Jahrzehnte nach Maos Tod, sowie auf Ais intensive Forderung nach freier Meinungsäußerung, immer, überall. Die 14 Meter hohe antike Ahnenhalle besteht aus über 1.300 Einzelteilen und ist – nach einer gewiss nicht einfachen Ausfuhr – zum ersten Mal außerhalb Chinas zu sehen. Durch sie erhält der Projekttitel „Translocation – Transformation“ zusätzlich zu der Flüchtlingsthematik eine zweite, hoffnungsfrohe Bedeutung: Der Dislokation folgt stets eine Transformation, der örtlichen Bewegung eine geistige, jeder Translozierung ein Prozess der Neuverortung. Dieser geht einher mit einer inneren Migration und folglich einer Veränderung der Identität.

Der selbst längst zum Nomaden gewordene Ai Weiwei, berühmt für die Kritik, die sein Werk vor allem an den gravierenden Veränderungen, die in China seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes stattfinden, übt – darunter Verstöße gegen die Menschenrechte, wirtschaftliche Ausbeutung, Umweltverschmutzung –, behandelt zunehmend auch europäische Themen. Schon früh bezieht er sich formal nicht nur auf künstlerische Traditionen Chinas, sondern auch auf den Mitbegründer der Konzeptkunst und Wegbereiter des Dadaismus Marcel Duchamp (1887-1968). In der Installation im 21er-Haus verwendet Ai außer der „Ancestral Hall“ noch zwei weitere Materialien bzw. Objekte, um sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Neben der wieder instandgesetzten und jetzt in den Westen verzogenen Ahnenhalle befindet sich die Installation „Teahouse“, die aus einem Feld von gepresstem, zart duftendem, auf den Boden ordentlich verstreuten Pu-Erh-Tee und zwei Holzhausminiaturen besteht. Sie erinnert an die Teekultur in China und an die ursprünglichen Besitzer der Ahnenhalle. Nur wenige Schritte entfernt ist ein weiteres solches Beet auf dem Fußboden ausgebreitet, „Spouts“, das die Assoziationskette der Translokation – von der Teefamilie Wang, über den Tee bis hin zur Teekanne – schließt und dem flachen Pauschallabel eines „Made in China“ im Wiener Museum eine ungewohnt transkulturelle Bedeutung und neue Würdigung verleiht. Genau genommen sind die „Spouts“ nämlich abgebrochene Teekannenschnäbel, die wie ein Teppich vor den Füßen des Betrachters liegen. Die rund 2,5 Tonnen porzellanener Schnäbel von antiken Teekannen wirken in ihrer rosa-weiß bis hautfarbenen Fragilität von Weitem wie Knochen oder Rippen und stellen mit poetischer Einfachheit einen inhaltlichen Bezug sowohl zu den Folgen der Kulturrevolution als auch zum Exponat „F Lotus“ im benachbarten Belvedere-Garten her.

Europe reloaded

Europe reloaded?
Hier schließt sich der transkulturelle Kreis. Im Zeitalter der Globalisierung, des neoliberalen Welthandels und der digitalen Medien schwinden oppositionelle Orientierungspunkte wie „der“ Westen, „der“ Osten, Nord und Süd zusehends und machen neuen Wertigkeiten Platz. Ein anderer, zunächst innerer Kompass verortet auf unserer mentalen Weltkarte längst kulturelle Grenzen überschreitende Zusammenhänge: z.B. die Nachhaltigkeit menschlicher Verhaltensweisen, unsere Fähigkeit zur Empathie, Solidarität und Kooperation, alternative Wege friedlicher Kommunikation sowie die gesellschafts- und umweltverträgliche Zirkulation von Wissen und Know-how. Ais Wiener Kunstschau lässt unter dem Aspekt der Vermittlung dieser ethischen Gesichtspunkte kaum Besucherwünsche offen: Sie ist exzellent didaktisch aufbereitet und mit einem anspruchsvollen, thematisch breit gefächerten und verschiedene Bevölkerungsgruppen ansprechenden Rahmenprogramm versehen. Im Zusammenspiel der diversen Projektteile schafft sie es, der polemischen Qualität manch anderer Arbeiten Ai Weiweis die Spitze zu nehmen, ohne die Wiener Exponate ihrer künstlerischen Schlagkraft zu berauben. Im Gegenteil, sie erhellen sich gegenseitig und erstrahlen insgesamt in einer umso tieferen, nachdenklich stimmenden, aber auch – oder gerade darum – gesamtkonzeptuell überzeugenden Ästhetik. Nicht nur Europa, die Welt wächst in „Translocation – Transformation“ zusammen.

Solch positives Ergebnis verdankt sich ohne Zweifel einer aktiv-inneren Auseinandersetzung Ai Weiweis mit den brisanten und politischen Themen der Meinungsfreiheit und Migration, denen er wie kaum ein anderer eine authentische, genuin transkulturelle Expressivität verleiht. Um seiner – sowohl künstlerischen als auch persönlichen – Haltung Nachdruck zu verleihen, widmet er sich in den Niederlanden, wo er im Groninger Museum bereits 2008 einen ersten großen europäischen Einzelauftritt wagte, weiterführend diesen Fragen, deren enorme gesellschaftliche Relevanz sich gerade in diesen Tagen anlässlich der Auflösung des Flüchtlingscamps im französischen Calais, dem sog. „Dschungel“, wieder bestätigt.

Im letzten Jahresquartal 2016 stellt Ai Weiwei, z.T. parallel zu Wien, eine Riesencollage Tausender von Fotoaufnahmen aus, die er mit seinem Mobiltelefon hergestellt und mit denen er die Wände des Fotografiemuseums Foam in Amsterdam unter dem Titel „#SafePassage“ seit dem 16.9. und noch bis zum 7.12.2016 tapeziert hat. Die unzähligen kleinformatigen Bilder sollen dem Publikum einen Eindruck vermitteln von den vielen persönlichen Begegnungen, die dem Chinesen in den vergangenen Monaten mit Einzelpersonen und -schicksalen im Rahmen der tragischen Situation im Mittelmeerraum widerfahren sind. Seit Ai zum ersten Mal im Dezember 2015 Lesbos besucht hat, ist er mit seinem Team zu Flüchtlingscamps rund ums – nicht nur europäische – Mittelmeer, insbesondere nach Syrien, Italien, Israel, Frankreich und in die Türkei, gereist. Dort hat er mit dem Verständnis, über das er durch seine persönlichen Erfahrungen als ein vor der chinesischen Regierung Flüchtender verfügt, Hunderttausende von Flüchtlingen und Migranten erlebt, die ihr Leben riskiert haben, um nach Europa zu kommen – und dann ihren Weg oftmals durch geschlossene Grenzen versperrt sahen.

Eine transkulturelle Welt
Wohin verschlägt die Europapolitik die Flüchtlinge am Ende und wohin verschlägt die Flüchtlingsdebatte am Ende Europa? – Auch Deutschland bangt um eine gesellschaftliche Umwälzung durch die neuen Immigranten. Während Belgien und Frankreich aufgrund der Serie rezenter Terroranschläge gebeutelt vor einem Strauß innenpolitischer Probleme stehen, stellt sich die Situation vom südwestlichen Rand Europas aus betrachtet eher wie ein wiederkehrender Refrain altbekannter Spannungsverhältnisse dar. In Spanien, gar nicht weit weg von Algier und der nordafrikanischen Küste, wo 2007 die innerkontinentale Immobilienblase zuerst platzte, was die Banken- und Finanzkrise von 2008 auslöste und Griechenlands Staatsbankrott einläutete, hallt das Echo der Geschichte durch die Straßen.

Die Verkaufsschilder an den Häusern sind inzwischen fast gänzlich verschwunden, und Kolumbianer, Asiaten, Schwarze, Juden, Europäer, Araber oder Japaner bummeln wieder durch die Küstenorte an der Costa Blanca, so wie die Touristen durch den Garten des Wiener Belvedere. Tagsüber schmettert Andrea Boccelli „Ti voglio bene assai“ im durch sonnige Palmenlandschaften rollenden Reisebus und im Taxi schmachtet ein weiblicher Sopran „Mi amor...“ aus dem Radio lockend zurück – Liebe auf Mediterran ist doch am schönsten und gnadenlos ist das Leben überall... Aber wenn abends durch die vibrierende Altstadt Alicantes arabische Melodien in der oktoberlauen Nachtluft ihren Weg durch die offenen Fenster der Häuser finden, erzählen sie nicht nur von fernen Zeiten und Orten, sondern auch von künftigen, konkreten Möglichkeiten.

Dialogisch gesehen gleicht die arabische Vergangenheit Spaniens, um mit Ai Weiwei zu sprechen, der chinesischen Kulturgeschichte vor Mao, befand sich doch etwa das unweit von Alicante, weiter im Inland gelegene Murcia, auch als „Obstgarten Europas“ bekannt, über die Jahrhunderte im ständigen Wechsel zwischen maurischer und christlicher Herrschaft. Ursprünglich eine sarazenische Siedlung, die unter dem Namen Mursiya im Jahre 825 durch Abd-El-Rahman II. gegründet wurde, konnte durch die damals überlegene maurische Technologie aus der unwirtlichen Gegend wertvolles Weideland gewonnen werden, wodurch die Stadt an Reichtum gewann.

Noch heute schlängelt sich ein labyrinthisches Gassengewirr wie in einer Kasbah oder Medina durch die Innenstadt. Die Straßen wurden deshalb absichtlich so eng gebaut, weil die arabischen Völker genau wussten, dass sie der Sonne dann wenig Angriffsfläche boten und die Stadt kühl halten konnten. Dieser Effekt verstärkte sich dadurch, dass die Gässchen nie gerade, sondern immer kurvenreich verliefen. Die Stadtanlage blieb, die Herrscher wechselten, als Murcia im Rahmen der Reconquista 1265 endgültig vom christlichen Spanien erobert wurde. Doch die Weisheit der ersten Siedler kommt noch der heutigen spanischen Bevölkerung – ein Gemisch verschiedenster Ethnien, das seit jeher symptomatisch für Europas Geschichte ist – zu Gute. Während sich heute in dem EU-Land Sozialisten und Konservative wieder annähern, um nach einer zehnmonatigen Krise eine handlungsfähige Regierung zu bilden, findet in Murcia, abseits vom Tagesgeschehen, nach wie vor jährlich das Fest „Murcia Tres Culturas“ im Mai statt, das an die drei ehemals beherrschenden Kulturen in der Stadt – Christentum, Islam und Judentum – erinnern soll.

Stehen wir Anno 2016 also wirklich vor dem Scherbenhaufen Europas oder basteln wir weiter am Mosaik des auf die griechische Antike zurückgehenden „Mythos Europa"? Sollte die Idee der europäischen Union tatsächlich eine ideologische Totgeburt gewesen sein, oder sind wir nicht vielmehr – aller von Ai Weiwei zu Recht angeprangerten staatlichen Willkür und den Tücken der Geschichte zum Trotz – dabei, unser altgedientes Haus Europa mit dem nötigen langen Atem geduldig weiter zu bestellen und es, ungeachtet aller Verfehlungen, die sich im Mittelmeer seit Beginn der Flüchtlingskrise als „Massengrab Europas“ materialisieren, weiterhin so funktional und „schön“ wie möglich herzurichten?

Der große Verdienst von Ai Weiweis neuer Arbeit entspringt dem tiefen Schmerz über das Gewesene und einer – schwer erarbeiteten, aber dafür umso sichtbareren – Hoffnung auf die Vorteile, die der Kausalzusammenhang „Transloction – Transformation“ in sich bergen mag. Das einprägsame transkulturelle Potenzial seines innovativen Projekts ist – jenseits von Ais Aktivismus, jeder nur allzu menschlichen Sehnsucht nach Heimat und derzeit nicht nur in Europa kursierenden politischen Nationaldenke – als eine überlebenswichtige geistige Ressource in Zeiten der Globalisierung zu betrachten. Mit seinem Wiener Großprojekt hat Ai Weiwei genau deshalb ins Schwarze getroffen: Es visualisiert eindrücklich unterschiedlichste Facetten moderner Mobilität und bringt das nomadische Prinzip als weltumspannendes, zukunftsweisendes ästhetisches Moment in den internationalen Kunstdiskurs des 3. Millenniums bildgewaltig, bezaubernd energetisch und überraschend kohärent ein.

Über dreißig Jahre nach der die Postmoderne ankündigenden Publikation „Tausend Plateaus“ (1980) des französischen Philosophenduos Gilles Deleuze und Félix Guattari ist damit das Konzept des modernen Menschen als „Nomade zwischen den Kulturen“ im 21. Jahrhundert angekommen. Die vielen historischen und kulturellen Schichten Europas bieten sich geradezu an, diesen transkulturellen Reichtum zu teilen und menschliche Solidarität zu leben. Nicht nur in der Geschichte Spaniens haben es verschiedene Völker unter stabilen Regierungen oftmals lange Zeit geschafft, friedlich und gewinnbringend zu koexistieren. Und im lauen Oktoberwetter spült sich das Mittelmeer ruhig und glatt an Spaniens Costa Blanca, wunderschön und verschlingend zugleich.
Doch wenn es mit der kulturübergreifenden Kohabitation wider Erwarten in absehbarer Zeit klappen sollte, wohin würde es Ai Weiwei dann hinziehen? – Nun, die Sorge ist eher unbegründet, denn bis dahin muss sich rund um die Achse Peking – Wien – Costa Blanca noch so einiges bewegen und verändern.

Ai Weiwei „Translocation – Transformation“
zu sehen bis 20. November 2016, im 21er Haus, Museum für zeitgenössische Kunst, Quartier Belvedere, Arsenalstraße 1, in A-1030 Wien, Österreich
Weitere Informationen zum 21er Haus
Weitere Informationen zum Belvedere

Hintergrund-Videos zur Ausstellung

„Katalog
AI WEIWEI translocation – transformation“
Erscheinungsjahr: 2016
Herausgeber: Agnes Husslein-Arco, Alfred Weidinger
Seiten: 244
Format: 24 x 35 cm, , 4 Hefte in einer Hülle
ISBN 978-3-903114-09-8 (Deutsch/Englisch/Chinesisch)
Preis: EUR 39

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Weitere Solo-Ausstellung in Europa:
„#SafePassage“, 16.9.-7.12.2016, Foam Fotografiemuseum, Keizersgracht 609,
1017 DS Amsterdam, Niederlande
Weitere Informationen Foam

Persönliche Homepage von Prof. Ai Weiwei an der Universität der Künste, Berlin


Abbildungsnachweis:
Header: Ai Weiwei, F Lotus, 2016. © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien. 1005 Schwimmwesten, PVC, Polyethylenschaum 4876,5x4700x7,5cm
Header2: Spuren im Sand: Quo vadis Europa? Zum neuen Müll in mediterranen Gewässern gehören seit den hoch schlagenden Wellen der Flüchtlingskrise 2015/16 auch einzeln angespülte oder im Mittelmeer treibende Schuhe. Allein der Verbleib ihrer Besitzer ist ungewiss. Foto: Dagmar Reichardt

Galerie:
01. Plakat und Flyer-Motiv.
© Belvedere, Wien.
02. und 03. F Lotus, 2016. © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien. 1005 Schwimmwesten, PVC, Polyethylenschaum 4876,5x4700x7,5cm
04. Hintergrund: F Lotus, 2016. © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien. 1005 Schwimmwesten, PVC, Polyethylenschaum 4876,5x4700x7,5cm. Vordergrund: Circle of Animals/Zodiac Heads, 2010. Private Sammlung, Foto: © Belvedere, Wien. Diverse Maße

05. Circle of Animals/Zodiac Heads, 2010. Private Sammlung, Foto: © Belvedere, Wien. Diverse Maße
06. S.A.C.R.E.D., 2011-2013, six-part work composed of (i) S upper, (ii) A ccusers, (iii) C leansing, (iv) R itual, (v) E ntropy, (vi) D oubt six dioramas in fiberglass and iron, each 377x198x153cm installation view,chiesa di sant’ antonin, 2013. Courtesy of the artist and lisson gallery
07. und 08. Wang Family Ancestral Hall, 2015. © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien. Über 1.000 Teile verschiedener Bauelemente aus Holz, späte Ming-Dynastie (1368-1644), mir originalen Schnitzereien und bemalten Ersatzteilen 1364,7x1451x939cm
09. Spouts, 2015. © Ai Weiwei Studio, Foto: © Belvedere, Wien. 100.000 antike Teekannenschnäbel aus Keramik von den Song bis Qing Dynastien; Installationsmaße: 1400x400cm
10. und 11. Lu 鯥, 2015. © Belvedere, Wien. 470x250x195cm Bambus und Seide
12. Tea Talks. Foto: Natascha Unkart, © Belvedere, Wien
13. Ai Weiwei, 2016. © Belvedere, Wien.
14. Flüchtlingsfamilie in Paris, Gemeinschaftsausstellung „Con ojos de mujer“ (dt. „Mit den Augen einer Frau“) von Ana Bernal, María Manzanera und Consuelo Molina an der Universität Murcia, Detail aus dem Foto mit dem Titel „Paris 2013“ von Ana Bernal. Foto: Dagmar Reichardt
15. Logo dreier sarazenischer Frauen gemalt von Adriana Assini für den spanischen Universitätsverein für Frauenstudien AUDEM („Asociación universitaria de estudios de las mujeres“). Foto: Dagmar Reichardt
16. Eiliger Passant in der südspanischen Einwanderungsstadt Murcia, eine Großstadt mit einem seit rd. 15 Jahren überproportional rapide ansteigendem Nicht-EU-Ausländeranteil, darunter viele illegale Immigranten. Die konservative Volkspartei Spaniens PP (Partido Popular) verabschiedete im Jahr 2000 (Ley Orgánica 4/2000) ein stark liberales Ausländergesetz. Foto: Dagmar Reichardt
17. Ein von der Arbeit erschöpfter junger Araber im ALSA-Reisebus von Murcia über Alicante nach Valencia. Nach Murcia kommen viele arbeitskräftige Immigranten, um auf Märkten und an Szene-Treffpunkten wie dem Busterminal früh morgens Gelegenheitsarbeiten unter der Hand anzunehmen. Foto: Dagmar Reichardt
18. Arabische Kleinfamilie im Zentrum von Alicante, nahe des Hafens. Die ethnische Segregation prägt hier ebenso das Straßenbild, wie die Arbeitslosigkeit junger Spanier und die Omnipräsenz moderner Nomaden: vor allem Touristen und Urlauber. Foto: Dagmar Reichardt
19. Gutbürgerliche Hochzeitsfeierlichkeit einer spanischen Familie auf dem Rathausplatz von Alicante. Der liebevolle Umgang mit Kindern, farbenfrohes Modebewusstsein und der Familienzusammenhalt – generell eine eher südliche und östliche, sicher nicht mehr westliche soziale Stärke – gehören zum typisch mediterranen Alltagsleben. Foto: Dagmar Reichardt
20. Spanien-Touristen schlendern mit ihrem Reisegepäck als „Nomaden zwischen den Kulturen“ auf der Strandpromenade von Alicante in die Richtung eines Mastes, an dem Fahnen für die aktuelle Ausstellung über die Wikinger als „Krieger des Nordens“ und „Giganten der Meere“ hängen („Vikingos del mar“, Museo Nacional de Dinamarca, Mai 2016-Januar 2017). Foto: Dagmar Reichardt
21. Die ruhige See als Hauptattraktion: Blick auf die Altstadt Alicantes von der Meer-Seite aus. Nord und Süd, Ost und West verwischen am Badestrand. Der Verschiebung der Koordinaten auf dem geographischen Kompass entspricht eine innere Veränderung: Ethnien überlagern, treffen und vermischen sich. Foto: Dagmar Reichardt
22. Das Westliche Mittelmeer und Balearen-Meer aus der Vogelperspektive: Ob Scherbenhaufen oder Mythos – Europa ist auf dem Weg in eine hochtechnisierte, multiethnische, vielsprachige transkulturelle Zukunft. Die Ortsunabhängigkeit ist eine westlich geprägte, globale Errungenschaft des 3. Jahrtausends.Foto: Dagmar Reichardt.

 

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