Theater - Tanz
tatjana

Vielleicht war es dem Respekt gegenüber seinem Lehrmeister John Cranko geschuldet, vielleicht wollte John Neumeier auch nur deutlich machen, etwas völlig Eigenständiges kreiert zu haben.
Seine Neufassung von „Eugen Onegin“, Puschkins Versroman und Vorlage von Crankos Ballettklassiker von 1965, trägt jedenfalls einen anderen Namen: "Tatjana", nach der traurigen Heldin, deren Liebe Onegin verschmäht – bis er zu spät seinen Irrtum erkennt. Mit der Uraufführung und einer hinreißenden Hélène Bouchet in der Titelrolle starteten nun die 40. Hamburger Ballett-Tage. John Neumeier, der mittlerweile wohl Dienst älteste Ballettchef der Republik, stellte sich einmal mehr als Spezialist des psychologisch ausgeleuchteten Handlungsballetts und Schöpfer grandioser Pas-de-Deux unter Beweis.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das orchestrale Auftragswerk, das die hochbegabten Komponistin, Pianistin und Autorin Lera Auerbach für „Tatjana“ schuf, ist derart plakativ, dass es zum Schluss schon auf die Nerven geht. John Neumeier hat mit der jungen Russin, die heute in den USA lebt, bereits öfter zusammengearbeitet, doch bei diesem, von Puschkins Zeitgenossen Wissarion Belinski als „Enzyklopädie des russischen Lebens“ bezeichneten Stoff, scheinen ihr die Pferde durchgegangen zu sein: Jeder Atemzug, jeder Seufzer, jede Gemütsschwankung der Protagonisten wird mit vibrierenden Geigen, frohlockenden Flöten oder dramatischem Blech unterstrichen. Da hätte sogar Maurice Jarre, Schöpfer der „Doktor Schiwago“-Filmmelodien, neidisch werden können.

Die illustrative Musik (übrigens glänzend gespielt von den Philharmonikern unter Simon Hewett) schmälerte jedoch kaum das Vergnügen an diesem mitreißenden Ballettabend außerhalb von Zeit und Raum, der vor allem im zweiten Teil hoch emotional und spannungsgeladen ist.

„Tatjana“ beginnt mit einem Prolog – einer Vision des Duells zwischen Eugen Onegin und Vladimir Lensky. Neumeier nimmt den Tod des Komponisten (bei Puschkin ist es noch ein Dichter) hier vorweg und gibt damit auch das eigentliche Thema des Abends vor: „Tatjana“ ist im Grunde ein traumverloren schöner Totentanz. Ein Vanitas-Ballett, das mit jeder Episode die Unausweichlichkeit des Schicksals verkündet. Der Mensch hat keine Gewalt über das Leben. Der Tod ist allgegenwärtig. Auch in Tatjanas von Lemuren und Schreckgespenstern nur so wimmelnden Albtraum, der von Goyas Caprichos inspiriert zu sein scheint. Eugen, bei Cranko noch der Märchenprinz, der Tatjana im Traum auf Händen trägt, erscheint hier mit schwarzer Kutte und Kapuze als personifizierter Sensenmann.

Seit Crankos „Onegin“-Uraufführung in Stuttgart vor fast einem halben Jahrhundert hat es keine Neuinterpretation des Stoffes mehr gegeben. Eine zeitgemäße Interpretation von Puschkins Dandy und Nichtsnutz, der sich blasiert und gelangweilt den Tag vertreibt und dabei die Liebe seines Lebens verpasst, war in der Überflussgesellschaft, in der wir Westeuropäer leben, längst überfällig.

Neumeier versetzt die Handlung jedoch nicht in die Gegenwart. Bis auf Lensky in Jeans bleibt der zeitliche Rahmen im Ungefähren. Anfangs wähnt man sich in nachrevolutionärer Zeit. Die Soldaten und Bauern auf dem Land, wohin es Onegin durch eine Erbschaft verschlägt, könnten der Kleidung nach sogar aus den 40er-Jahren stammen. Der Ball am Schluss, auf dem die mittlerweile verheiratete Heldin und Onegin sich nach Jahren wiedertreffen, ist hingegen von zaristischem Glanz geprägt. Diese Unstimmigkeiten irritieren kaum, denn es geht Neumeier ganz offenbar nicht um eine bestimmte Epoche, sondern um die Unzulänglichkeit des Menschen. Um Hochmut und Fall, um verschmähte Liebe und verpasste Chancen, die es so oder so ähnlich zu allen Zeiten und überall auf der Welt geben kann.

Im Halbdunkel, vor versatzhaften Kulissenbauten, die an die melancholischen Räume Edward Hoppers und des dänischen Symbolisten Vilhelm Hammershois erinnern, schält Neumeier – er zeichnet auch für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich – die Seelen seiner Protagonisten wie mit dem Seziermesser heraus, scheut dabei nicht vor symbolisch starken Bildern, wie Tatjanas Tanz mit dem Bären (der anfangs noch als Kuscheltier auf der Fensterbank saß) das Pas-de-Deux mit Carsten Jung, der später auch ihren Gatten gibt, ist einer der Höhepunkte des Abends. Nackt und bloß schlüpft Tatjana schließlich selbst in das Bärenfell und wird somit zur Verkörperung der russischen Seele.

Héléne Bouchet ist eine Ausnahmetänzerin, aber ebenso eine exzellente Schauspielerin. Sie geht derart in der Rolle auf, dass man zwischendurch glatt vergisst, ein Hochleistungsballett vor Augen zu haben.
Das gleiche gilt für Edwin Revazov. Er ist ein phantastischer Onegin. Spielt ihn zu Beginn als echtes – mit Verlaub – Arschloch. Nicht nur eingebildet und arrogant bis zum Abwinken, sondern gefährlich rücksichtslos in seiner Gefühlskälte. Für diesen Lebemann sind Frauen nicht mehr als ein Stück Fleisch, das man bei Bedarf einfach wegwirft – wie hier in die Arme eines Bediensteten.

Affig aufgeputzt wie ein Harlekin erscheint Eugen auf Tatjanas Namenstags-Fest. Er will sich amüsieren, trinken, tanzen, nachdem er Tatjanas Liebesbrief zerrissen hat und klargemacht hatte, nichts Ernstes von ihr zu wollen. Hemmungslos flirtet er mit der lebenslustigen Olga, Tatjanas Schwester und Lenskys Verlobter. Die Eifersucht des Freundes (Alexandr Trusch brilliert als heißblütiger Musiker) nimmt er noch nicht einmal ernst, als der ihm aufgebracht den Wodka ins Gesicht kippt. Onegin will kein Duell, das macht Neumeier in einer wunderschönen schicksalshaften Zeitlupensequenz deutlich – aber er schießt ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Tod des vielleicht einzigen Freundes ändert jedoch alles – Onegin zerbricht daran. Und diesen anderen, haltlosen, verzweifelten Menschen verkörpert Revazov zum Niederknien gut.
Wer den Ukrainer, seit 2010 erster Solist des Hamburg Balletts, noch als blondgelockten Tadzio, Parzival oder Apollo in Erinnerung hat, wird ihn kaum wiedererkennen: Kahlgeschoren, bleich, sehnig und fast schon hager, haftet ihm in seiner neuen Paraderolle nichts mehr von dem lieblichen, jungenhaften Strahlemann an, der 2003 im Handumdrehen zum Hamburger Publikumsliebling avancierte. Hier präsentiert sich vielmehr ein atemberaubend intensiver Charakterdarsteller, der die Zerrissenheit Onegins zwischen Hybris und Demut auf die Spitze treibt. Im ergreifenden Schluss-Pas-de-Deux mit Tatjana geht er weit über die Figur hinaus, wird zum Inbegriff des verlorenen Menschen: Büchners Woyzeck, Borcherts Beckmann, Hofmannthals Jedermann – dieser Onegin scheint sie alle in sich zu tragen.


"Tatjana" - Ballett von John Neumeier
nach "Eugen Onegin" von Alexander Puschkin
10. Juli 19:30 Uhr, Hamburgische Staatsoper
Weitere Informationen


Header: Detail aus Plakatmotiv zu "Tatjana" mit Hélène Bouchet (Tatjana). Foto: Holger Badekow.

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