Ausbruch aus dem Corona-Keller
Das Wetter spielte mit an diesem Abend. Schon der Weg durch St. Georg zum Schauspielhaus gleicht einem Hochsommertag. Außenbestuhlung bis an den Straßenrand, jeder Platz besetzt mit laut gestikulierenden Gästen, hungrig nach Leben und Gemeinschaft. Nur die umherschwirrenden Kellnerinnen und Kellner tragen noch Masken. Fast wie früher. Fast. Die Euphorie ist neu.
Das bisschen Abendsonne reicht noch nicht, um Jacken und Schals abzulegen, aber ihre Strahlen künden immerhin schon mal vom Ende nicht nur der meteorologischen Kühlschranktemperatur im Mai, sondern auch vom Ende der gefühlten Eiszeit im gefühlten Corona-Keller.
Inmitten des Trubels öffnet das Hamburger Schauspielhaus nach Monaten des Streamens ganz still wieder seine Pforten für eine Uraufführung im Malersaal, die eigentlich mal am Schauspielhaus Zürich stattfinden sollte. Schon der Titel von Christoph Marthalers Hölderlin-Abend, „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“, scheint zu feiern, was sich da draußen abspielt. Er ist einem Hölderlin-Gedicht entnommen, in dem vieldeutig die Sorge um unsere Zukunft, unsere Kinder anklingt und vor allem die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, sich Sorgen um sie zu machen.
Strenger als überall sonst geht es am Einlass zu: Nur 37 abgezählte, frisch getestete, genesene oder durchgeimpfte Zuschauerinnen und Zuschauer mit Kontaktdaten dürfen da hinein in diese Marthaler-Höhle, die zwischen den Betonwänden des Malersaals entstanden ist. Duri Bischoff hat sie einem Vogelkäfig nachempfunden. Eine übergroße Sepiaschale und zwei riesige Vogelfutter- und Wasserspender über dem Klavier bestätigen: Wir befinden uns in Gefangenschaft.
Im Publikum ähnelt das Bild des Eingesperrt-Seins womöglich dem eigenen Wohnzimmer, in dem man unfreiwillig viel Zeit verbracht hat. Auf sehr bequemen Sesseln und Sofas wird Abstand gehalten. Auf der Bühne sieht es ungemütlicher aus. Hinten links sitzt in einem Trümmerfeld aus geborstenen Möbeln, Violinen, Bratschen und Celli der Musiker Martin Zeller mit seiner siebensaitigen Gambe und spielt ein paar Töne von Bach. Die Stahltreppe, die zum Notausgang nach oben führt, ist mit Ringelband abgesperrt und mit einer Stütze als baufällig markiert. Verloren stehen Josefine Israel und Sasha Rau, Lars Rudolph und Samuel Weiss herum und schaben an ihrer Kleidung, mit der Sara Kittelmann, wie bei Marthaler nicht anders zu erwarten, das Spießertum der Nachkriegszeit (bis heute) in Beige-Variationen (karierten Pullundern und Hosen, Rüschenblusen, geblümten Hemden und hellbraunen Cordjacken) zelebriert.
Samuel Weiss, Martin Zeller, Bendix Dethleffsen, Lars Rudolph, Josefine Israel. Foto © Matthias Horn, 2021
Sieben schwarze Instrumentenkoffer für Hörner liegen wie Schneckenhäuser herum. Und nachdem die Schauspieler die ersten Akkorde des Pianisten Bendix Dethleffsen ein paar Mal niedergebrüllt haben, darf dieser endlich spielen: Schuberts wunderbar romantische Ode „An die Musik“, die das Leitmotiv für diesen Abend abgibt. Und wie immer bei Marthaler bricht unvermittelt die Musik ab, oder sie verwandelt sich in eine Partita von Bach oder in Zitate von Beethoven, Schumann oder Rachmaninoff. Beim ersten Mal singt Samuel Weiss im Falsett dazu: „Du holde Kunst...oft hat ein heiliger Akkord von dir den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen…“ und zupft den Refrain auf einer verstimmten Geige mit. Später singen die Frauen, und Zeller bringt das Kunststück des schiefen Refrains auf der einzigen Saite eines zerbrochenen Cellos fertig.
Auch die Kunst ist hier gefangen. Kommt nicht aus sich heraus. Verliert immer wieder ihre Stimme, ihre Richtung. Marthaler lässt die Schauspieler in einer Schlange antreten und ein Bonmot von Hölderlin wiederholen: „Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung... man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe.“ Die Hybris des Dichters, die jenen zum Stolpern bringt, der Alltag mit seinen Rechnungen, die bezahlt werden wollen, immer wieder taucht der Konflikt zwischen dem Erhabenen und dem Niederen in Hölderlins Texten mit einer Explosion von Bedeutungen auf.
Bei Marthaler werden sie, freilich mit einem Augenzwinkern, regelrecht verbannt, sie erreichen hier im Käfig niemanden mehr, und erinnert an das Schicksal Hölderlins. Die Schauspielerinnen und Schauspieler stecken ihre Köpfe in die leeren Instrumentenkoffer und raunen des Dichters Worte, Josefine Israel flüstert sie in einen Spalt in der Wand. Anrührend, wenn Lars Rudolph seine Mitspielerinnen wie Hölderlin seinen Freund, den Theologen Christian Ludwig Neuffer, vertraulich und direkt anspricht und ins Stottern gerät. „Freund! Ich kenne mich nicht, ich kenne nimmer den Menschen“, und die sich auf der Stelle von ihm abwenden. Mal ehrlich: Wer muss jetzt nicht an die ungespielten Rollen der Künstlerinnen und Künstler, an den Shutdown der Kultur und dessen Folgen denken?
Foto © Matthias Horn, 2021
Marthaler spart nicht mit eindeutigen Verweisen auf die Kunst in Zeiten der Virus-Abwehr. Weiss verschluckt sich an Desinfektionslösung. Das Inventar der Bühne, die wenigen Stühle, Tische und ein Stehpult brechen im Laufe des 90-Minuten-Abends nach und nach auseinander, der krachende Lärm übertönt die vielen künstlerischen Versuche einen Ausdruck zu finden, eine Grenze zu überschreiten, einmal richtig laut zu werden.
Jede Menge Anlässe für Slapstick in Marthaler-Manier also. Er ist und bleibt ein intellektueller Romantiker, der das Scheitern lustvoll kultiviert und damit Hoffnung sät. Leise, ironisch, unaufdringlich und nur live. Auch das ist eine besondere Qualität der Marthaler-Stücke, dass sie den Eindruck vermitteln, einer professionellen Probe und nicht etwas einer fertigen Inszenierung beizuwohnen.
Und das Beste: Immer wieder löst sich alles auf in Musik. Selbst wenn der Pianist am Ende einen schwarzen Sack über dem Kopf trägt, spielen seine Hände weiter.
Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten
von Johann Sebastian Bach, Friedrich Hölderlin, Christoph Marthaler
Regie: Christoph Marthaler
im Deutschen Schauspielhaus, Kirchenallee, Hamburg
Weitere Informationen und Aufführungstermine
Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich und der Akademie der Künste Berlin / gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds
Regie: Christoph Marthaler
Bühne: Duri Bischoff
Kostüme: Sara Kittelmann
Licht: Annette ter Meulen
Idee u. künstlerische Beratung: Carl Hegemann
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Es spielen: Bendix Dethleffsen, Josefine Israel, Sasha Rau, Lars Rudolph, Samuel Weiss, Martin Zeller
Uraufführung, Premiere am 29/5/2021
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