Theater - Tanz
Peer Gynt - John Neumeier

Ibsens Menschwerdungsdrama „Peer Gynt“ hat John Neumeier 1989 zur Grundlage eines Balletts gemacht, für dessen Musik er Alfred Schnittke gewinnen konnte. Jetzt hat er das Werk überarbeitet und zum Start der 41. Hamburger Ballett-Tage erneut auf die Bühne gebracht. Eine bejubelte Zweitpremiere.

Es ist eine lebenslange Suche nach sich selbst. Der Weg durch eine Welt, der erst nach vielen Fehlern und Irrwegen im Gefunden-Werden, im Erkannt-Werden durch die Augen der Liebe an seinem Ziel ankommt. „Peer Gynt“, Henrik Ibsens 1867 geschriebenes dramatisches Gedicht, ein Menschwerdungsdrama von faustischen Dimensionen, hat John Neumeier seit den 60er-Jahren begleitet und lange in ihm gearbeitet, bevor er es 1989 in der Symbiose mit Alfred Schnittkes eigens komponierter, faszinierender Musik erstmals auf die Hamburger Opernbühne brachte.
Zur Eröffnung der 41. Hamburger Ballett-Tage hat sich der Hamburger Ballettchef die Choreografie von damals noch einmal vorgenommen und sie überarbeitet. Langjährige Ballett-Fans werden die Änderungen bemerken: Dass sich aus der Persönlichkeit Peer Gynts jetzt nur noch vier Aspekte herauslösen (in der ersten Fassung waren es sieben) und eigenständig auf der Bühne agieren – Unschuld (Aleix Martinez), Vision (Alexandre Riabko), Aggression (Karen Azatyan) und Zweifel (Marc Jubete). Dass Solveig, die große Liebende, einen starken eigenen Charakter bekommt in der Festigkeit, mit der sie an ihrer Liebe zu Peer Gynt festhält. Oder dass die Mutter in vielen Nuancen anders gezeichnet wird, indem Neumeier die tragischen Momente ihrer Rolle unterstreicht.

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Das alles zeichnet ein packendes Bühnenwerk noch einmal klarer. Was diesem „Peer Gynt“ gut tut, denn es ist ein gewaltig emotional aufgeladener Bewegungs-, Bilder- und Klangstrom, der da entfesselt wird und den Betrachter erheblich fordert in seinem Bemühen, das zu verstehen und gleichzeitig mit seinen Gefühlsschwingungen aufzunehmen.

Eine gewaltige Verdichtungsarbeit haben auch Neumeier und sein Komponist geleistet, wenn man weiß, dass die Fülle des Material zunächst in zwei Abenden auf die Bühne gebracht werden sollte, ja, dass Schnittke gar über drei Abende nachdachte. Es blieb schließlich bei einem Abend in drei Abschnitten, was hoch konzentrierte Bilder hervorgebracht hat, die sich in der Wahrnehmung der Zuschauer weiter entfalten und wirken.

Solveig entblättert Peer Gynt ein Erlösung zum Menschen
Ein Mensch auf der Suche nach sich selbst und nach dem Sinn seines Leben. Die lange Reise von den Allmachtsfantasien der Kindheit über erste Enttäuschungen, herben Fehlern, ziellosem Irren, dem Eintauchen in einen Beruf, Ellbogengebrauch, dem kometenartigen Erfolg, der gleichzeitig den Niedergang anderer bedeutet. Die Erfüllung seiner Träume, die gleichzeitig deren Untergang bedeutet. Die Entfremdung von der Wirklichkeit, weil Peer Gynt auch als Filmstar und „Kaiser der Welt“ nicht zu sich selbst findet. Je weiter oben auf der Karriereleiter Peer Gynt ankommt, desto mehr verschwindet seine Einzigartigkeit in der genormten Welt grauer Troll-Herren.

Was Ibsen im Zwiebel-Gleichnis vorführt: Peer Gynt nimmt Schicht um Schicht von einer Zwiebel fort, um zu erkennen: Im Inneren ist – nichts. Kein Kern, nichts Substanzielles.

Bei Neumeier findet Solveig, die Geliebte von früher, die fest in ihrem Glauben an den besseren Peer Gynt festgehalten hat, mit sicherem Blick den im genormten Einerlei Verlorenen. Sie entblättert ihn Schicht um Schicht, legt den einzigartigen Träumer frei, ordnet die Kleidungsstücke zu einer leeren Hülle und nimmt den ganzen Druck von dem nackten Peer Gynt, indem sie ihn mit ihrer unbeirrbaren, schlichten, großen Liebe umfängt. Er kann sich endlich fallen lassen. Und wird in dieser Liebe wieder zum einzigartigen, unverwechselbaren Menschen. Ein Sehnsuchtsmoment zu Schnittkes fast halbstündigem Epilog, wie er tiefer kaum gestaltet werden könnte. Atemlose Stille im Publikum, die in großen Applaus mündet.

Ein Opus magnum im Schaffen Neumeiers und seiner beiden Mitstreiter
Carsten Jung tanzt den Peer Gynt mit anfangs unbändiger Lebenslust, kraftvoller, zielloser und Konventionen brechender Männlichkeit bis hin zum Zusammenbruch in der Irrenanstalt und der Erlösungsszene erschütternd eindringlich. Alina Cojocaru vom English National Ballet als Gast ist seine Solveig, eine zarte Verkörperung von Weiblichkeit, die in ihrer schlichten Entschlossenheit auch dann alle Blicke auf sich zieht, wenn sie größten Ausdruck in kleinste Bewegungen packt. Anna Laudere tanzt Aase, Peer Gynts Mutter – für die der Verlust des Sohnes an die Welt den tiefsten Schmerz bedeutet. Carolina Aguero verkörpert die anderen Frauen in Peer Gynts Leben. Und Lloyd Riggins ist – da Peer Gynts Karriere sich tanzend im Showbusiness entwickelt – ein hinreißender Choreograf, der sich mit dem Produzenten der Show (Ivan Urban) immer wieder über das Talent Peers streitet.

Die fantastischen Bühnenbilder von Jürgen Rose reißen den Spielraum für die Tänzerinnen und Tänzer auf – von norwegischen Gebirgslandschaften mit einem roten Herzen bis zur „hollywoodesken“ Großkulisse mit Sphinx, fein stilisiert auch im Grellen – Bilder an der Grenze zur Traumwelt, unwirklich und fragil da, wo von Menschen Gemachtes auftaucht. Zusammen mit der Musik Schnittkes, in der sich die Kunst des versierten Filmkomponisten ebenso wiederfindet wie seine symphonische Größe, entsteht ein Gesamtkunstwerk – ein Opus magnum im Schaffen Neumeiers und seiner beiden Mitstreiter.

Die manchmal verwirrende Komplexität, die aus der Stofffülle Ibsen auch in diese Ballett-Fassung durchschlägt, bleibt bestehen, Erinnerungen mischen sich mit Sehnsüchten und tatsächlich Erlebtem. Der Kopf des Betrachters wird ständig gefordert vom Sortieren und Verstehen-Wollen – vielleicht verhindert das beim ersten Sehen das haltlose Eintauchen in die Welt Peer Gynts, das doch von Schnittkes suggestiver, packender Musik (eine Riesenleistung der Hamburger Philharmoniker unter Markus Lehtinen) so großartig befördert wird. Ein Ballettabend, der noch lange nachklingt und deutlich spürbar einen zweiten Besuch einfordert.

Peer Gynt – Fassung 2015. Ballett von John Neumeier, Musik: Alfred Schnittke, Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose. Nächste Vorstellungen: 30. Juni, 30. September, 6., 8. und 11. Oktober, Hamburgische Staatsoper

41. Hamburger Ballett-Tage noch bis zum 12. Juli: Zehn Choreographien, Gastspiel des Houston Ballet mit „Tapestry“, „Maninyas“ und „Velocity“ , Nijinsky-Gala XLI. Infos unter www.hamburgballett.de

Alfred Schnittke: Peer Gynt, die Ballett-Musik downloadbar im Apple-Store
Hörbeispiele bei youtube
:
Alfred Schnittke: Peer Gynt (1985/1987) (1/4)
Alfred Schnittke: Peer Gynt (1985/1987) (2/4)
Alfred Schnittke: Peer Gynt (1985/1987) (3/4)
Alfred Schnittke: Peer Gynt (1985/1987) (4/4)


Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Holger Badekow
Header: "Peer Gynt" Carsten Jung und Alina Cojocaru
Galerie:
01. Alexandre Riabko und Carsten Jung
02. und 03. Szenenaufnahme Hamburg Ballett
04. Alina Cojocaru und Carsten Jung.

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