Theater - Tanz
Varieté-Theater – oder die Aufhebung der Schwerkraft

Ist der Zirkus die große Oper im Bereich der unterhaltenden Bühnenkunst, dann ist das Varieté heute so etwas wie das Kammerspiel dieser Sparte.
Es spielt sich in einem deutlich kleineren Rahmen ab, Artisten und Zuschauer sitzen näher beieinander, man kann genauer hinschauen. So wie im Hamburger Hansa-Theater. Das Haus am Steindamm, 1878 als Concert-Saal errichtet, wurde 1893 zum Varieté-Theater umgebaut – damals ein gewaltiges Haus mit 1.500 Sitzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, teilweise zerbombt, öffnete es mit 330 Plätzen – Erlebnisgastronomie im liebenswert erhaltenen historischen Plüschrahmen bis heute, bei der man immer noch die Bedienung per Klingelschalter zum Minitischchen rufen kann.

Zum Jahresende 2001 fiel das Hansa-Theater, das mit der trotzigen Verweigerung „Nie im Fernsehen“ wirbt (KulturPort.De berichtete), in eine Art Dornröschen-Schlaf – nach 51.188 Shows, 25.000 Künstlern und 36 Millionen Zuschauern. Die Location blieb erhalten und wurde liebevoll gepflegt. 2007 beschlossen Ulrich Waller und Thomas Collien vom St. Pauli-Theater, Viviane Hecker vom Hamburger Abendblatt und Rüdiger Kowalke vom Fischereihafen-Restaurant, die Hamburgensie wach zu küssen – was nicht nur bei Hamburgern einen Nerv traf.

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Seither unterstreicht man in jeder neuen Saison von Oktober bis März die große Tradition des Hauses, in dem früher Show-Größen wie der Entfesselungskünstler Houdini, die große Josephine Baker, der frühe Hans Albers, Clown-Könige wie Charlie Rivel oder Grock, der Magier Kalanag, der Kabarettist Wolfgang Neuss, und in den 50er-Jahren Schlagerstars wie Caterina Valente oder Conny Froboess auftraten. Selbstverständlich standen auch Tierdressuren mit Elefanten, Pferden und Großkatzen im Programm. 1964 traten hier Siegfried und Roy auf, die später mit ihren Tiger-Dressuren die Welt eroberten.

Jetzt, in seiner 7. Saison neuer Zeitrechnung und im 121. Jahr seines Bestehens als Varieté-Theater, ist das Hansa-Theater lebendiger denn je, die Macher können wohl wieder mit einer Auslastung von 90 Prozent und mehr als 60.000 Zuschauern rechnen. Was verändert sich bei der Kunstform Varieté? „Die Nummern werden schneller, das Lichtdesign und die Präsentation moderner. Die uralte Kunst bleibt.“

Das Erfolgsrezept formuliert Ulrich Waller so: „Erstens ist Artistik unbestechlich, da kann sich niemand durchmogeln – ein Salto muss hinhauen, ein Schwert wird geschluckt, eine Zauberei muss verzaubern. Und zweitens hat das immer etwas mit Erinnerungen an die eigene Kindheit, an Kinderträume zu tun: dass man die Schwerkraft aufheben könnte, dass man wirklich zaubern kann, dass Seifenblasen ewig halten.“
Beim Hansa-Theater gibt es hochklassige, handverlesene, topmoderne Varieté-Nummern in charmanter Retro-Verpackung, mit kulinarischen Häppchen und launiger Moderation durch bekannte Schauspieler oder Kabarettisten, die das Programm mit ihrem eigenen Können bereichern und ihm immer wieder neue Facetten geben. So wie Stefan Gwildis, der bei der Premiere etliche seiner Deutsch-Soul-Nummern beisteuerte und Schlager-Legende Bill Ramsey (83) für einigen Jazz-Titeln auf der Bühne präsentierte – standing ovations.

Man staunt über die lässige Eleganz der schieren Kraft bei der Handstandakrobatik von Oleg Izossimov, fiebert ungläubig mit bei den beiden Jongleuren von Strahlemann und Söhne, die während des virtuosen Hantierens mit ihren Keulen einen Striptease vorwärts und rückwärts absolvieren. Kann herzlich lachen bei der augenzwinkernden Dog-Comedy von Leonid Beljakow und seinem vierbeinigen Partner, hält den Atem an bei der waghalsigen Akrobatik des Guos Guidi.

Man freut sich über die hübschen Einrad-Tänzerinnen Yuka und Satomi, erschauert vor dem Schwert, mit dem die Schwertschluckerin The Beautiful Jewels ohne viel Getue das macht, was ihre Berufsbezeichnung nahelegt. Ist irritiert und verblüfft von den Illusionen, durch die der Zauberer Marko Karvo aus dem Nichts lebendige Vögel auftauchen lässt, von denen die größeren dann eine virtuose Saalrunde über den eingezogenen Köpfen des Publikums fliegen.

Gebündelt ist der ganze Zauber des Hansa-Theater jedoch in der Nummer von „Bubble Man“ Tom Noddy, der mit großen Seifenblasen spielt, sie mit Rauch füllt, sie zu traumhaften Bildern ordnet oder zu Mini-Vulkanen oder Taschen-Tornados werden lässt – ein großes Spielkind, das uns für poetische Momente zurückholt in eine Zauberzeit, in der wir selbst an solche unmöglichen Dinge geglaubt haben und sie wenigstens ausprobiert haben wollten.

Artisten mit Persönlichkeit suchen die Varieté-Macher von Steindamm, Künstler mit überragenden Fähigkeiten, die auf hohem artistischen Level agieren und die nicht in einem übergeordneten Show-Konzept ihr Gesicht verlieren sollen. Sie können inzwischen wieder unter vielen Auftrittsangeboten auswählen, das Traditionshaus am Steindamm ist auf dem besten Weg zurück zu seinem alten Zauber.

Das liest man auch in den vielen glücklichen Gesichtern am Ausgang nach der Show. Ein Glück, das bei mir nicht einmal der ritualisierte Satz meines Vaters aus den Angeln heben konnte, der mir früher bei den gewagtesten Artistennummern schalkhaft ins Ohr flüsterte: „Aber mit den Ohren macht er gar nichts!“

Das Hansa Varieté Theater finden Sie im Steindamm 17, in 20099 Hamburg
Die Saison läuft bis 1. März 2015, tägl. außer Mo. jeweils 20 Uhr. Sa. 16 und 20 Uhr / So. 15 und 19 Uhr.
Tickets (31,90 Euro bis 58,90 Euro) unter www.hansa-theater.de und unter (040) 4711 0644.

Hansa Varieté Theater-Trailer
KulturPort.De-Beitrag: Nie im Fernsehen


Abbildungsnachweis:
Alle Fotos © Hansa Varieté Theater
Header: „Bubble Man“ Tom Noddy
Galerie:
01. Oleg Izossimov; Handstandakrobatik
02. Yuka & Satomi; Einrad
03. Duo Guidi; Akrobatik
04. Leonid Beljakow; Comedy Dog Show
05. Strahlemann und Söhne; Jonglage
06. Marko Karvo; Zauberer
07. The Beautiful Jewels; Schwertschlucken
08. Dirk Bielefeldt; Conférencier
09. Programmheft-Cover Hansa Varieté Theater

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