Drei Stücke in einem Kosmos. Verdi im Visier
- Geschrieben von Annedore Cordes -
Im Verdi-Jahr 2013 würdigt die Hamburgische Staatsoper den 200. Geburtstag des Jubilars mit einer außergewöhnlichen Trilogie.
Hamburgs GMD Simone Young, Regisseur David Alden, Bühnenbildner Charles Edwards und Kostümbildnerin Brigitte Reiffenstuel setzen drei frühe Werke des italienischen Maestro in Szene. Annedore Cordes sprach mit Simone Young über das spektakuläre Projekt.
Annedore Cordes (AC): Zum großen Verdi-Jubiläum schmieden Sie so etwas wie einen mediterranen Verdi-‚Ring’ und präsentieren drei Frühwerke in der Inszenierung eines Teams mit einem Gesamtkonzept und einem großen Bogen: Wie kam es zu der Auswahl dieser drei Opern?
Simone Young (SY): Es fing mit einem Gespräch an zwischen David Alden und mir. Wir wollten seit langem erneut eine Verdioper miteinander machen, nachdem wir 1997 in Houston in der Grand Opera einen ‚Macbeth’ erarbeitet hatten. Dies war eine sehr produktive Zusammenarbeit, die ich auf jeden Fall wiederholen wollte.
Sehr früh habe ich mich für ‚I due Foscari’ entschieden. Ich muss gestehen: Es war die allererste Oper, die ich als junge Repetitorin betreut habe. Ich schätze das Stück also schon seit über 30 Jahren. Und so schlug ich David Alden vor, mit ihm zusammen ‚I due Foscari’ zu machen. Wir sprachen über das Verdi-Jahr, und dass es da etwas Besonderes geben sollte. Er hatte dieses außergewöhnliche Projekt, die drei sehr speziellen Opern Verdis zusammenzubringen, seit geraumer Zeit im Auge gehabt – sicherlich vor allem aus inhaltlichen Gründen.
Alle drei Werke haben mit der Verlagerung von Gegenwartsproblemen ins Mittelalter bzw. in die Renaissance zu tun. Und sie stammen alle aus dem ersten Drittel des Lebenswerkes Verdis und sind dabei im musikalischen Stil sehr unterschiedlich. Die Idee, drei Werke zu nehmen, die inhaltlich eine Verbindung haben, musikalisch aber sehr eigenständig sind, fand ich besonders reizvoll. Und so haben wir uns entschlossen, als zusammenfassende Klammer das Gesamtkonzept bewusst in einen einheitlichen Raum zu stellen.
AC: Besonders entscheidend für diesen Entschluss ist wohl auch die rasche Aufeinanderfolge von gleich drei auf einen Komponisten bezogenen Premieren…
SY: Das war der auslösende Gedanke. Dann fragten wir uns, wie lässt sich das realisieren? Auch praktische Erwägungen spielten dabei zwangsläufig eine Rolle. Wir wollten drei Premieren in einem Zeitraum präsentieren, in dem schon rein aus organisatorischen Gründen normalerweise nur eine große Premiere stattfinden kann. Und so kamen wir auf die Idee, die Stücke für die Solorollen individuell zu inszenieren, aber den Chor ganz bewusst szenisch anders einzusetzen, als es normalerweise bei großen Choropern üblich ist. Die Funktion des Chores in diesen drei Werken ist vergleichbar mit jener in der griechischen Tragödie. Dort ist der Chor von vornherein statisch angelegt, versinnbildlicht die Meinung der Masse, bietet eine Vielfalt von Hintergrundinformationen oder kommentiert die entscheidenden Themen des Stückes. Unser Chor befindet sich zeitweise auf einer Empore oberhalb des Spielgeschehens, was die theatralische Wirkung verstärkt. Diese Idee ist gleichzeitig sehr praktikabel, denn so ist es probentechnisch möglich, die drei Werke in äußerst knapper Zeit reibungslos auf die Bühne zu bringen.
Sucht man nach thematischen Gemeinsamkeiten von ‚La Battaglia di Legnano’, ‚I due Foscari’ und ‚I Lombardi alla prima Crociata’, stößt man auf Verdis Interesse für Machtkonstellationen, Patriotismus und auf die bereits erwähnte Verlagerung von Gegenwartsproblemen in die fernere Vergangenheit.
AC: Was sind für Sie die entscheidenden Verbindungen?
SY: Wie alle großen Werke Verdis sind diese drei Opern zunächst einmal fesselndes Familien- und packendes Polit-Drama in einem. Die von uns gewählte Chronologie hat unmittelbar mit den dramatischen Stoffen zu tun. ‚I due Foscari’ liegt als intimeres Kammerspiel zwischen den anderen beiden großen Choropern. Das zentrale Motiv, welches die Werke miteinander verbindet, ist vor allem die „Liebe zur Heimat“, in Verdis Zeit natürlich die große Sehnsucht nach Italien als vereinter Nation. Im Brennpunkt ist dies die Kernaussage aller drei Werke, die ja in den Jahren zwischen 1843 und 1848 geschrieben worden sind, also vor und während der Volksaufstände in den italienischen Provinzen.
Unsere erste Premiere, ‚La Battaglia di Legnano’, ist Verdis am stärksten patriotische Oper, die bis heute unmittelbar mit den italienischen Freiheitsbestrebungen (Risorgimento) in Verbindung gebracht wird. Es geht um einen Liebes-Dreiecks-Konflikt vor dem Hintergrund des Kampfes der Lombardischen Liga gegen den Usurpator Kaiser Barbarossa. Eines der wichtigsten musikalischen Elemente in ‚La Battaglia’ ist der Marsch. Jenes Marschthema, das bereits in der Ouvertüre erklingt, kündet am Anfang des ersten Aktes die Heimkehr der erfolgreichen Lombardischen Liga an und kehrt im Laufe der Handlung häufig wieder. Diese Oper hat Verdi zwischen »Macbeth« und ‚Rigoletto’ komponiert und sie weist stilistisch bereits eindeutig in die Zukunft voraus. Es gibt immer wieder Zitate, bei denen man denkt: Moment mal, ist das »Don Carlo«? Oder: War das etwa ‚Rigoletto’? Oder: Das sind klassische ‚Traviata’-Motive! In ‚La Battaglia di Legnano’ treten tatsächlich einzigartige Momente auf, bei denen man das Gefühl hat, dies kenne ich schon und doch klingt es ganz anders.
AC: Im Umgang mit dem Frühwerk Verdis gibt es ja bis heute viele Klischees. Der Handlung von ‚I due Foscari’ etwa wirft man Statik vor, was ja für die Musik keinesfalls gelten kann, denn Verdi zeichnet die drei Hauptfiguren individuell und gibt ihnen charakteristische Motive…
SY: Bei ‚I due Foscari’ handelt es sich im zentralen Kern um ein Vater-Sohn-Drama. Die fast starre staatliche Integrität des Dogen bewirkt, dass er die Staatsräson über alles stellt und den Verlust seines Sohnes Jacopo in Kauf nimmt.
Interessant ist, dass Verdi bei diesem Werk erstmals auf eine Liebesgeschichte im Zentrum verzichtet und den Fokus auf eine alles beeinträchtigende politische Thematik legt. Für ihn war es wichtig, dass sich das Sujet grundsätzlich von seinen vorherigen Opern unterscheidet, „voller Leidenschaft“ sein sollte und „musicabilissimo“. Er hat zu jener Zeit zum Beispiel damit experimentiert, Charaktere mit einzelnen Orchesterfiguren und mit verschiedenen Instrumentengruppen zu versehen. Aber es ist bei dem einen Mal geblieben. Erstaunlich genug: Einzig bei ‚I due Foscari’ arbeitet Verdi mit einer auf Personen bezogenen Leitthematik. Ein Moll-Thema mit der Soloklarinette steht für Jacopo, tiefe Streicherfiguren für den Dogen und ein drängendes Streicherthema für Lucrezia. Auch vokal gesehen ist die Rolle der Lucrezia eine herausragende bravouröse Partie. Ansonsten ist ‚I due Foscari’ eher traditionell gehalten, besonders im Vergleich mit den anderen beiden Opern, die in Details schon ausgefallener sind, beispielsweise wie unverwechselbar Verdi darin für Stimmen schreibt. ‚I due Foscari’ einfach gattungsgeschichtlich als eine Skizze für spätere Werke zu bezeichnen, würde dem Ganzen nicht gerecht werden, da auch dieses Werk ein unvergleichliches Unikat ist. Aber es zeigt eben auch deutlich an, worauf Verdi in seiner speziellen Dramaturgie später zum Beispiel mit »Simon Boccanegra« hinzielt. Aus dieser Perspektive lassen sich diese drei Opern trotz aller individuellen Qualitäten zweifelsfrei als Stichproben für die späteren Werke bezeichnen.
AC: In der Chronologie steht ‚I Lombardi’, in der Hamburger Trilogie die letzte Premiere, an erster Stelle. Mit diesem Werk, so wird es gern pauschal gesehen, wollte Verdi den Erfolg von ‚Nabucco’ wiederholen. Zwar war die Uraufführung 1843 sehr erfolgreich, doch heute werden dem Stück musikalische und dramaturgische Mängel bescheinigt. Auch deshalb findet man es selten auf den Spielplänen. Was macht Ihr eindeutiges Plädoyer für diese Oper aus?
SY: ‚I Lombardi’ ist vielleicht das bekannteste unter den drei Werken. In der späteren von Verdi stark veränderten französischen Fassung kennt man es unter dem Namen ‚Jérusalem’; zu dessen Popularität wahrscheinlich auch eine Inszenierung an der Wiener Staatsoper beigetragen hat, mit Plácido Domingo unter den Solisten und die über viele Jahre gespielt wurde.
‚I Lombardi’ ist das komplexeste Stück, allein schon, weil die Handlung an verschiedenen Schauplätzen und über einen langen Zeitraum stattfindet. Es beginnt in Mailand und erstreckt sich über Antiochia bis hin zum Heiligen Grab. Bei dieser Oper thematisiert Verdi, wie so oft, den Widerstreit zwischen privaten und gesellschaftlichen Interessen. Der Anspruch auf Privatsphäre wird zerstört, sobald patriotische und politische Zwänge hinzukommen. Was steht an erster Stelle, die Liebe zu einem Partner, zur eigenen Familie? Oder die Pflichterfüllung für das Land und für die Religion?
Was ich an ‚I Lombardi’ besonders faszinierend finde, ist die Tatsache, dass diese Oper, ähnlich wie ‚Don Carlo’, eine völlig eigene Musiksprache besitzt, wie Verdi sie derart zugespitzt danach nicht mehr verwendet hat. Zum Beispiel gibt es am Ende des dritten Aktes ein großes exponiertes Violinsolo. So etwas hat er nie wieder komponiert – abgesehen vielleicht eben in »Don Carlo«, wo er in die Ballettmusik ebenfalls ein Violinsolo einbaute. Aber ein solches Violinsolo, das so einschneidend in den Gesangspart hineinreicht wie in ‚I Lombardi’, so etwas hat er nie wieder gemacht.
Auch die großen a-cappella-Chöre hat er bei den späteren Opern nach ‚Macbeth’ weggelassen. Wie in ‚La Battaglia’ dominieren bei ‚I Lombardi’ die großen Chorszenen. Bei der Konzeption dieser Werke versuchte er zweifellos den Erfolg von ‚Va pensiero’ aus ‚Nabucco’ nachzuahmen. Und tatsächlich kommt er dem sehr nahe mit ‚O Signore, dal tetto natio’ in ‚I Lombardi’, und auch in ‚La Battaglia’ gibt es ein vergleichbares Chorstück.
AC: Um das Einzigartige dieser Trias hervorzuheben: Gibt es weitere musikdramatische Elemente, die nur in den Frühwerken zu finden sind?
SY: Auffällig ist, dass gerade in ‚I Lombardi’ Verdis Einsatz der Banda, der Bühnenmusik, besonders ausgeprägt ist. Später hat er dieses Stilmittel immer stärker reduziert. Bereits in ‚La Battaglia’ erklingen nur noch Fanfaren mit Blechbläsern als Banda. Aber in ‚I Lombardi’ gibt es Trompeten, Flöten, Klarinetten, also eine Banda-Musik mit allem Drum und Dran. Und diese Banda spielt tatsächlich eine spannende Rolle im Dialog mit dem Orchester. Das ist sehr ausgeprägt, und ich denke, dass man während der Aufführung auf ein solches Merkmal bewusst hören sollte. Oft bemerkt man ja die Banda leider erst, wenn ihre Spieler nicht zusammen sind. In ‚I Lombardi’ ist die Banda eigentlich die Aktion hinter der Bühne. Diesbezüglich gleicht ‚I due Foscari’ stärker Verdis späteren Werken. Denn da spielen die Gondolieri hinter der Bühne und singen etwas Atmosphärisches dazu. Was ich erstaunlich finde, und das Publikum wird es vielleicht auch so erleben, ist folgender Umstand: Hört man sich alle drei Opern an und weiß nicht, in welcher Reihenfolge sie komponiert worden sind, würde man meinen, dass 'La Battaglia' die früheste ist, weil sie von den orchestralen Farben weniger komplex ist. Und 'I Lombardi' und ‚I due Foscari’ sind auf den ersten Blick eher das, was wir heute als den reiferen Verdi-Stil empfinden, weil diese beiden Stücke in ihrer musikalischen Sprache eher in Richtung ‚Don Carlo’ weisen.
Auf jeden Fall finde ich es besonders interessant, dem Hamburger Opernpublikum, das die Kernwerke von Verdi bereits kennen gelernt hat, diese Frühwerke zu präsentieren, zum einen, weil man in ihnen sofort Anschlüsse zu anderen „Verdi-Ankern“ finden und erkennen wird, gleichzeitig aber aufgrund der in unserer Trias erzeugten Spannungsbögen sofort das Einzigartige und Unverwechselbare an jedem dieser drei Stücke erkennt.
AC: Mir fällt bei diesen drei Opern auf, wie stark die weiblichen Charaktere sind, die Verdi schafft. Lida, Lucrezia und Giselda sind alles Frauen, die ihr Schicksal, soweit es ihnen möglich ist, selbst in die Hand nehmen und viel entschlossener sind als ihre männlichen Mitstreiter …
SY: Die Frauenfiguren in den Stücken sind tatsächlich von Verdi sehr einprägsam und individuell gestaltet. Außergewöhnlich, welche Willensstärke und Aktivität diese Frauen entfalten, die nach außen hin zunächst schwach und wehrlos erscheinen. Dabei kann es durchaus sein, finde ich, dass diese Porträts heute besser ankommen als in der Zeit, als sie komponiert wurden. Lida in ‚La Battaglia’ scheint mir, verglichen mit den anderen, eher eine klassische Verdi-Heroine zu sein. Musikalisch gesehen, aber auch als Charakter auf der Bühne, liegt sie für mich ein wenig zwischen einer Violetta in ‚La Traviata’ und einer Elisabetta in ‚Don Carlo’. Auch sie trägt werkgebunden patriotische Züge, ist jedoch durch ihr privates Schicksal (als Ehefrau des besten Freundes ihres ehemaligen Geliebten, der lange für tot gehalten wurde) zur Passivität verurteilt. Der sie zerreißende Gewissenskonflikt, den sie nach Arrigos plötzlicher Rückkehr aushalten muss, löst bei ihr eine ganz bestimmte Todessehnsucht aus, die sich durch die gesamte Handlung zieht.
Die Lucrezia aus ‚I due Foscari’ ist eine unvergleichliche Rolle, wie Verdi sie später nie wieder komponiert hat. Sie hat die Unbedingtheit einer Abigaille aus ‚Nabucco’ oder einer Lady Macbeth, aber nicht deren Bosheit. Sie ist tatsächlich eine moderne, stark ihren Gefühlen und Instinkten gehorchende Frau, die trotz ihrer Bindung an die herrschenden Verhältnisse das für sie Äußerste wagt. Für ihre Gefühle und Absichten geht sie über alle Konventionen hinaus, um Gerechtigkeit für ihren Mann zu erkämpfen.
In ‚I Lombardi’ wiederum erschafft Verdi vor allem mit Giselda ein psychologisch individuell gezeichnetes Porträt. Sie kämpft mit den Fesseln der Familientradition und will sich von der Last historischer Zwänge befreien. Sie geht so weit, dass sie ihren Vater Arvino öffentlich anprangert und eine leidenschaftliche pazifistische Rede hält.
Auch Viclinda, die zweite, etwas kleinere Mezzopartie, ist übrigens ein faszinierender und individuell gezeichneter Charakter – ein weiterer Beweis, wie präzise Verdi gerade in seinen sogenannten frühen „Galeeren-Werken“ versuchte, psychologische Dramen mit emotional einzigartigen Charakteren zu entwerfen.
AC: Um dem Geschlechterkampf Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Wie sieht es bei den männlichen Protagonisten aus?
SY: Na ja, die Tenöre scheinen auf den ersten Blick stimmgebunden zwischen Liebe und einem gewissen Heroismus zu schwanken… In Verdis frühen Opern sind sie, da stark der Tradition des Belcanto verhaftet, eher einseitig romantische Helden.
Interessant ist aber, dass Verdi vom Anfang seiner Jahrzehnte lang währenden Werkentwicklung an sehr genau weiß, wie man für Baritone und Bässe schreibt. Ich glaube, er hat schon in frühen Jahren eine große Vorliebe für diese einprägsamen und unverwechselbaren tiefen Stimmen gehabt. Laut einer Angabe in der Partitur soll der Doge Francesco Foscari 80 Jahre alt sein. Selbstverständlich kann kein Mensch diese Partie mit 80 Jahren singen. Aber dass Verdi bereits in seiner Jugend solch eine Figur mit derart viel Liebe und mit so viel Verständnis für diese schreckliche Situation zwischen Staatsraison und Familienliebe gestaltet, ist phänomenal. Seine Baritone sind stets so etwas wie vollendete Figuren, da sie eine unendlich vielfältige Palette an Menschlichkeit zeigen. Gerade mit Pagano in ‚I Lombardi’ schafft Verdi solch eine zerrissene und gleichzeitig liebes- und leidensfähige Figur, die sich ja im Verlauf der Handlung von einem Saulus zu einem Paulus entwickelt. Wie er überhaupt kaum einen Baritoncharakter schuf, der einzig eindimensional böse wäre! Nicht zu vergessen: Eine seiner einzigartigsten Menschenfiguren, Simon Boccanegra, ist in der Vorgeschichte, abseits der konkreten Handlung, ein brutaler Pirat. Und Graf Luna in ‚Il Trovatore’ ist nicht nur Despot, sondern hat auch eine ganz andere, eine einfühlsame Seite. Für alle gilt so etwas wie: Wäre das Schicksal anders verlaufen, würde aus jedem von ihnen ein anderer, besserer Mensch geworden sein. Verdis Baritonfiguren sind immer sehr komplex.
AC: Kurz vor Probenbeginn haben Sie für ein paar Tage das Ricordi-Archiv in Mailand für Recherchen aufgesucht. Nun sagt man gerade im Fall Verdis gerne, dass im Unterschied zu diversen Werkausgaben erst die Begegnung mit den Autographen dem Interpreten den musikalischen wie den dramatischen Willen Verdis ganz erschließt. Geht es Ihnen auch so?
SY: Ich habe sehr viel frühen Verdi dirigiert, ‚Oberto’, ‚Attila’, ‚Nabucco’, ‚Macbeth’, daher fühle ich mich auch ziemlich vertraut mit dem frühen Verdistil. Nur, was man bald merkt und auch zugeben muss: Fragen über Artikulation, Phrasierungen, Dynamik sind bei seinen Frühwerken schwer zu beantworten. Denn vieles, gerade was Artikulation und Phrasierung angeht, ist nicht konsequent durch alle Stimmen notiert, und das empfinde ich als besonders faszinierend. Aus diesem Grund ist es für mich umso wichtiger gewesen, genau zu sehen: Was steht in der handschriftlichen Partitur? Vieles von dem, was später in gedruckte Partituren übernommen wurde, entspricht manchmal eher der Meinung von Verlagsleitern oder Redakteuren. Es gibt eine gewisse Rohheit in den frühen Werken Verdis, was Bearbeiter auch zuweilen in den Werkausgaben etwas auszugleichen versuchen. Daher ist dieses akribische Studium für mich ganz wichtig, noch einmal sehr genau jede Punktierung, jede Phrasierung von ihm in der Handschrift anzuschauen. Es war wirklich ein großes Bedürfnis meinerseits, das alles noch mal angesehen zu haben.
So wird deutlich, wie entscheidend der zweite, der genaue Blick auf diese sogenannten „frühen Verdis“ ist. Dann wird auch erkenntlich, wie individuell im Musikalischen und Dramatischen dieser scharfe Blick Verdis auf Familie und Historie, auf Liebe und Ausweglosigkeit ausfällt. Und in Hamburg kann man das demnächst gleich mit drei Stücken in einem Kosmos erleben!
Das Programm und den Veranstaltungskalender finden Sie hier.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper.
Fotonachweis: Alle Hamburgische Staatsoper. Fotos: Bernd Uhlig
Header: Szene aus 'La Battaglia'
Galerie:
1. Portrait Simone Young. Foto: Berthold Fabricius
02.-05. Szenen aus 'La Battaglia'
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