Musik

Muss man den Eventcharakter fürchten, wenn man in der Ankündigung von einem szenischen Oratorium in einem Hangar liest? Nein, muss man nicht. Ganz im Gegenteil: Was für ein Glück, Hans-Werner Henzes zweiteiliges Oratorium „Das Floß der Medusa“ in einer Aufführung der „Komischen Oper“ im Hangar 1 auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin erlebt zu haben!

 

Komponiert für drei Solist*innen, gemischten Chor, Knabenchor und Orchester, hatte dieses Stück hier seinen idealen Aufführungsort. Es ist fast makaber, dies zu sagen, denn: Am Ende der Vorstellung öffnen sich die Tore des Hangars, ein gelbes Follow-Me-Sicherungsfahrzeug mit roter Signalleuchte leitet die geretteten Schiffbrüchigen der „Medusa“ hinaus aufs dunkle Feld. Soweit das Spiel. Das Schreckliche daran ist, es leben derzeit und in Wirklichkeit tatsächlich Flüchtlinge auf dem ehemaligen Flughafengelände.

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Das Floss der Medusa 01 F Jaro Suffner KOBFoto: Jaro Suffner

 

Konzentrieren wir uns auf das musikalisch und szenisch großartig dargestellte Henze-Oratorium (Libretto: Ernst Schnabel). Hier ist alles zu loben: die große logistische Gesamtleistung vor und hinter den Kulissen, die wunderbaren Stimmen sowohl solistisch als auch chorisch. Und nicht zuletzt die großartige Komposition und das hervorragende Orchester. Kurzum: Es war ein erschreckend schöner, ein verstörender und begeisternder Abend! Zu verdanken ist dieser Abend allen Beteiligten: Dem musikalischen Leiter Titus Engel, der Inszenierung von Tobias Kratzer, dem Bühnenbildner Rainer Sellmaier, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, Dramaturgin Julia Jordà Stoppelhaar, den Chören der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von David Cavelius sowie dem Staats- und Domchor Berlin mit seinem Dirigenten Kai-Uwe Jirks, der Lichtregie von Olaf Freese und dem Tondesign von Holger Schwark. Und nicht zuletzt dem Komponisten Hans-Werner Henze und dem Librettisten Ernst Schnabel.

 

Nicht zu vergessen die Solisten, allen voran Gloria Rehm als „La Mort“, der die großen elegischen Phrasen zugeordnet sind und die selbst die unglaublichsten Spitzentöne ohne Schärfe, sondern warm, weich und weit sang. Henze hat die Partie für sehr hohen Sopran geschrieben, der zugleich Tiefe besitzt, also über einen großen Stimmumfang verfügt. All das trifft voll und ganz auf Gloria Rehm zu, die als verführerische Todin mit starker Ausdrucksfähigkeit und großer Stimmkraft überzeugte. Ihr und dem Totenreich zugeordnet sind die Streicher, während die Lebenden von den Blasinstrumenten getragen werden. Sie unterstützen den Atem der Lebenden. Im Übergang zum Tod vermischt sich beides. Denn nach und nach wechseln die Lebenden auf die Seite der Toten. Doch auch dort verlieren sie nicht die Stimme. Die Toten singen auf Deutsch, die Lebenden auf Italienisch. Hier hat der Librettist Schnabel sich Texte von Dantes „Göttlicher Komödie“ geliehen.

 

Der Erzähler Charon (Idunno Münch), eine Art Jedermann, versucht, das Geschehen neutral zu betrachten. Er steckt jedoch im Dilemma des Betrachters. Wir wissen, warum: Allein durch Zusehen kann man sich schuldig machen. Mal spricht Charon die Texte frei, mal rhythmisch, mal skandiert die Erzählfigur auf frei wählbaren Tonhöhen. Dieser Charon macht seine Sache sehr gut. Er hellt die Stimme auf oder verdunkelt sie – ganz so, wie Henze es angelegt hat, wie die Rolle es verlangt, changiert er zwischen Schauspiel und Gesang. Auf dem Floß der Medusa selbst ist es eine Person, die auch äußerlich herausragt. Während alle anderen Schiffbrüchigen (4 Tote, 13 Sterbende, 14 Lebende) dunkel bis schwarz gekleidet sind, trägt dieser Mann namens Jean-Charles (Günter Papendell) ein weißes Hemd. Henze hat in seiner Komposition für diese Figur Nervosität und Dramatik vorgegeben. Jean-Charles musikalische Rolle besteht dementsprechend aus Sprechgesang und experimentellen Gesangsmomenten wie Stottern oder Glissandi. Ihm werden nur wenige zusammenhängende Gesangslinien zuteil. Seine Vokallinie ist meist kleinteilig, immer aber überzeugend.

 

Kommen wir zur Szenerie: Am Anfang des Oratoriums liegt eine Wasserfläche still vor uns. Auf diesem mittig gelegenen Wasserquadrat ruht das Floß der Medusa zunächst bewegungslos wie ein Gemälde. Der Raum ist überhaupt großartig aufgeteilt: Einander gegenüber jenseits des Wasserbeckens befinden sich die beiden Ränge, dicht gefüllt mit Zuhörern und Zusehern. Der eine Rang liegt auf der Seite der Lebenden, der andere auf der Seite der Toten. Das Orchester ist auf einer (allem anderen ebenbürtigen) Seitenfläche platziert. Nach der erzählenden Eröffnung und der ersten Orchesterfarbe löst sich völlig unerwartet und tief berührend ein klangschönes Chorensemble aus dem Zuschauerbereich, in großer Ernsthaftigkeit und Dezenz wird das Drama klanglich und bildlich ausgebreitet. Plumpe, eindimensionale Bezüge zur Gegenwart werden geschickt umschifft, indem das historische Bild von Théodore Géricault als Tableau vivant den Raum bestimmt – mit Segel und rotem Tuch.

 

Das Floss der Medusa 02 F Jaro Suffner KOB

Foto: Jaro Suffner

 

Sogar die frühe Szene, der sich am Wasserballspiel im Becken ergötzenden Oberschicht hat nichts Modernistisches, ist kein bloßes Geplantsche im lauen Wasser, sondern eine dezente Titanic-Assoziation. Überall ist schauernde Schönheit zu bewundern, die überzeugende Darstellung des widersprüchlichen Menschen. Und die Musik? Sie ist 55 Jahre alt, durchaus außergewöhnlich, aber auch hier überzeugt in der Darbietung alles: Die Akustik ist perfekt ausbalanciert, ein Hall wie aus dem All, bemerkenswerterweise keine Überakustik, ein beeindruckend umsichtiger Dirigent, großartige Solisten (Knaben, Sopran, Bariton, Sprecherin). Und die Komposition? Sie wirkt frisch, spontan und dennoch proportional ausbalanciert, sowohl in Zeit und Raum als auch in klanglicher Phantasie und Dynamik, im Ausgleich von Dissonanz (Bedeutung für Henze: Ausdruck von Schmerz) und Konsonanz, im Wechsel von elegischer Melodik und rhythmischer Eruption zwischen Blech, Holz und Saitenspiel, zwischen Soli, Chor und Orchester. Alles ist zur richtigen Zeit am richtigen Platz.

 

Übrigens: Diverse Skandale begleiten die historische Geschichte der „Medusa“ und die auf ihr beruhende Komposition. Die Fregatte „Medusa“ war das Prachtschiff des französischen Königs Ludwig der XVIII. Das Schiff stach 1816 an der Spitze eines Geschwaders von La Rochelle aus in See. Die Flotte hatte den Auftrag, die englische Kolonie Senegal zurückzuerobern und wieder in den Besitz der Bourbonen einzugliedern. Weil aber der Kapitän kurz vor dem Ziel den Kurs falsch berechnet hatte und die Machthabenden an Bord ungeduldig wurden, landete das Flaggschiff auf einem Riff. Drei Tage versuchte die Mannschaft vergeblich das havarierte Schiff wieder flottzumachen. In der dritten Nacht drohte die Fregatte zu kentern. Rasch waren die wenigen Rettungsboote von hochrangigen Mitgliedern der Besatzung und von Beamten der Regierung besetzt. Für 154 Menschen blieb ein rasch aus Brettern zusammengenageltes Floß als einzige Überlebensmöglichkeit, zunächst noch im Schlepptau der Rettungsboote. Doch schon nach drei Stunden wird das Seil gekappt und die Schiffbrüchigen werden der offenen See überlassen. Das ist der eine Skandal.

 

Grundlage für den zweiten Skandal bildete der Bericht zweier Überlebender, der zwar sofort von der französischen Regierung einkassiert wurde, über Umwege aber dennoch publik wurde. Historiker gehen davon aus, dass dieser Bericht, diese Beschreibung des selbstsüchtigen und unverantwortlichen Verhaltens der Befehlshaber die Julirevolution antrieb und somit wesentlich zum Untergang der Bourbonen-Dynastie im Jahr 1830 beitrug. Den dritten Skandal verursachte 1819 ein Gemälde von Théodore Géricault, der den Bericht kannte und in seinem Bild die Rettung der wenigen Überlebenden darstellte. Heute hängt das Gemälde im Louvre. Zum ersten Mal in der Geschichte der Malerei wurde mit Géricaults Gemälde „Le Radeau de La Méduse“ ein tagespolitisches Ereignis bildnerisch aufgegriffen. Eine solche Darstellung war bis dahin historischen, mythischen und biblischen Stoffen vorbehalten.

 

Das Floss der Medusa 03 JEAN LOUIS THÉODORE GÉRICAULT Louvre

Théodore Géricault, Le Radeau de la Méduse (dt.: Das Floß der Medusa), 1818-1819, Öl auf Leinwand, 491x716 cm, Louvre, Paris. Gemeinfrei

 

Zum Skandal wurde auch die am 9. Dezember 1968 geplante und begonnene, aber letztlich nicht durchgeführte Uraufführung des Henze-Oratoriums „Das Floß der Medusa“ in Hamburg, die live im Rundfunk übertragen werden sollte. Das Oratorium war in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Intendanten und Matrosen Ernst Schnabel (Libretto) als Auftragsarbeit des NDR entstanden und fertiggestellt. Die Uraufführung ging jedoch in einem Tumult unter. Schuld daran waren ein von Student*innen am Konzertpult befestigtes Che-Guevara-Poster und eine rote Fahne. Das hatte erbitterte Kämpfe unter den Anwesenden ausgelöst und in der Folge einen Polizeieinsatz. Die Sache endete mit dem Abbruch der Veranstaltung und mehreren Verletzten. Auch Librettist Schnabel musste im Krankenhaus behandelt werden. Gesendet wurde eine Aufzeichnung der Generalprobe.

 

All diesen Skandalen könnten weitere hinzugefügt werden. Denken wir beispielsweise an die heutige Situation von Flüchtlingen. Die Schlussworte Charons „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück, belehrt von der Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen“ sprechen für sich. Diesen Worten liegt bei Henze der Rhythmus des Schlachtrufs „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ zugrunde. Das sollte und könnte und zu denken geben. Begeisterten Publikumsapplaus noch im Ohr, ereilt mich auf dem Heimweg die Schlussreflexion: Haben mich Werk und Aufführung so sehr überzeugt, weil der freiheitsliebende Henze allem Widerstand trotzend seinen Weg der musica impura gegangen ist und in schlafwandlerischer Sicherheit frei von Dogmen eine dem Libretto entsprechende Atmosphäre erschaffen hat, die den Hörer das Machtspiel von Text-Musik-Dominanz vergessen lässt? Verschmilzt der poetische Text von Schnabel mit dem lyrisch-dramatischen Duktus der Henze‘schen Komposition, weil Henzes Lebensweg der Weg der Freiheit ist?

 

Das Floss der Medusa 04 Foto Jaro Suffner KOB

Foto: Jaro Suffner

 

Coda: Wir sollten Lebenden mehr Chancen geben – auch jungen Komponist*innen, und wir sollten Uraufführungen in jedem Fall weitere Aufführungen folgen lassen, damit zeitgenössische Musik sich uns öffnen kann und wir nicht erst nach 55 Jahren die Schönheit einer Komposition erkennen. Und dann noch dies: Gratulation der Komischen Oper zur Stückauswahl, zum Mut, zur logistischen Meisterschaft, zur Personalauswahl und und und… Danke!


Das Floẞ der Medusa

Hans Werner Henze

Oratorium in zwei Teilen [1968]
Dichtung von Ernst Schnabel

Komische Oper Berlin im ehemaligen Flughafen Tempelhof, Hangar 1

Musikalische Leitung: Titus Engel | Inszenierung: Tobias Kratzer | Bühnenbild und Kostüme: Rainer Sellmaier | Choreographie: Marguerite Donlon | Dramaturgie: Julia Jordà | Chöre: David Cavelius | Kinderchor: Kai-Uwe Jirka | Licht: Olaf Freese

La Mort: Gloria Rehm | Jean-Charles: Günter Papendell | Charon: Idunnu Münch

Chorsolisten der Komischen Oper Berlin/Vocalconsort Berlin | Kinderchor | Staats- und Domchor | Kinderkomparserie

Weitere Informationen

 

YouTube-Videos:

- Das Floß der Medusa | Trailer | Komische Oper Berlin (0:49 Min.)

- Das Floß der Medusa | Teaser | Komische Oper Berlin (0:58 Min.)

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