Charlotte Gneuss hat mit „Gittersee“ einen mitreißenden, spannenden Roman über einen (Vor-)Ort und dessen Bewohner in der ehemaligen DDR geschrieben. Im Dresdener Stadtteil Gittersee arbeiteten Menschen jahrzehntelang unter Tage. Bis 1967 wurde dort Kohlebergbau betrieben und in der Folge bis1989 die Förderung von Uranerz.
Bis heute sei dieser Ort strahlenbelastet, erzählt Charlotte Gneuss im Gespräch mit Lektorin Juliane Schindler über ihren Debütroman „Gittersee“, der in den 70er Jahren spielt. „Ich habe das Gefühl, dass auch die sozialen Beziehungen strahlenbelastet sind“, so die Autorin. Wichtig für diesen Roman, der auf viel Recherchearbeit und der persönlichen Geschichte ihrer Eltern beruht, seien auch Fragen gewesen wie: Was bleibt unter Tage, was bleibt über Tage? Was bleibt im Dunkeln? Was kommt ans Licht?
Ausgezeichneter Debütroman
„Gittersee“ ist eine Familiengeschichte, eine Liebesgeschichte und eine Geschichte über ein junges Mädchen, das in die Fänge der Stasi gerät. Erzählt wird aus der Perspektive der 16jährigen Karin, die ihre kleine Schwester täglich – und manchmal auch nächtlich - wie einen Augapfel hütet. Karin spielt den halben Tag lang Hoppe-Reiter mit der Kleinen. „Ich warf sie in die Luft, fing sie auf, nannte sie meinen Rabenschwanz, meinen Kakadu, mein Goldgefunkel, meine Hasenpfote. Sie leckte sich Rotz von der Lippe. Zu Mittag legte ich sie mir auf den Bauch wie eine Wärmflasche. Du weißt von gar nichts, sagte ich und streichelte ihr dünnes helles Haar, von gar nichts weißt du. […]“ Das ist anrührend und schön, aber auch tragisch, denkt man genauer darüber nach. Zum Haushalt gehören neben der kleinen Schwester Karins Eltern und die Großmutter väterlicherseits. Die Eltern sind nach der Arbeit entweder mit der Reparatur des Skodas (der Vater) oder mit sich selbst (die Mutter) beschäftigt. Die Großmutter scheint immer daheim zu sein. Hier führt sie ein strenges Regime und trauert ihrer Vergangenheit als Blitzmädchen (Anm. d. Red.: Wehrmachtshelferin im zweiten Weltkrieg) nach. Karins Mutter möchte am liebsten ein ganz anderes Leben führen, und der Vater ertränkt jeglichen Kummer gerne in Alkohol. Beide Elternteile kämpfen beständig mit den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Sie kämpfen aber auch mit ihren eigenen Hoffnungen, die sich in diesem Leben wohl nicht erfüllen werden.
Karin geht noch zur Schule. Aufgehoben fühlt sie sich bei ihrer Freundin Marie. Vielleicht auch, weil Marie das einzige Mädchen in der Klasse ist, das weiß, sie will nach der Schule nicht etwas machen, sondern etwas werden. Sie weiß auch schon genau, was das sein wird: Marie Absicht ist es, in nicht allzu ferner Zukunft die erste Frau auf dem Mond zu sein. Karin hingegen weiß nur, was sie jetzt will: Sie möchte mit ihrem Freund Paul zusammen sein, der am liebsten Künstler wäre, stattdessen aber unter Tage arbeiten muss. Karins Wunsch wird gleich in Erfüllung gehen. Denn es ist Freitagnachmittag und Paul kommt direkt von der Arbeit mit seiner Schwalbe auf den Hof geknattert. Doch da „hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert.“ Lust hätte Karin schon, aber was ist mit der Kleinen? Wer passt dann auf sie auf? Und wen soll sie fragen? Der Vater wird ohnehin nein sagen. Paul bricht also allein zum Ausflug auf - und kehrt nicht zurück. Republikflucht nennt man so was. Und genau das bringt Stasi-Leute auf den Plan und in die Geschichte. Sie tauchen im schicken Auto in der Hofeinfahrt auf und nehmen Karin mit. Ein Alptraum beginnt.
Wenn der Atem (auch beim Leser, bei der Leserin) kurz und flach wird, weil die Situation aufregend, ja, bedrohlich erscheint, sind die Sätze oftmals kurzgehalten. Das ist aber nicht immer so. Wir können uns nicht darauf verlassen. Wie wir uns überhaupt auf rein gar nichts verlassen können. Warum auch? Schließlich kann Karin sich auch auf nichts und niemanden verlassen. Vielleicht ist es genau das, was diesen Roman ausmacht: Alles kann so, könnte aber auch ganz anders sein, so oder anders entschieden werden – wenn die Voraussetzungen anders wären. Alles ist in der Schwebe, alles ist unsicher. Zwar äußert einer der beiden Uniformierten, die bereits kurz nach Beginn des Buches auftauchen: „Man muss sich früh entscheiden, auf welcher Seite man steht“. Doch wie soll, wie kann ein Mensch das tun ohne Unterstützung durch Elternhaus oder Freunde? Zumal, wenn man so jung ist wie unsere Protagonistin?
Charlotte Gneuss geht in ihrem Debütroman Fragen wie diesen nach: Was macht Schuld, was macht Unschuld aus? Wie wird ein Mensch schuldig? Was macht Sicherheit aus, was Unsicherheit? Welche Wirksamkeit haben Systeme? Behandelt werden zudem komplexe Themen wie die Korrumpierbarkeit des Menschen, dessen vermeintliche Ohnmacht und die (oftmals unsichtbaren) Spiele der Macht. Ein gewaltiges literarisches Unterfangen. Doch die Autorin hat hierfür den richtigen Ton gefunden, eine sprachliche Leichtigkeit, die zwischen Radikalität und Naivität, zwischen Schnoddrigkeit und Genauigkeit changiert. Eine Sprache, die in jedem Fall die Sache auf den Punkt bringt. Eine Sprachkunst, die heftiges Mitleiden beim Leser erzeugt und inniges Mitleid mit der Romanheldin.
Es ist auch die besondere Beobachtungsgabe, die Charlotte Gneuss als ausgezeichnete Schriftstellerin erkennen lässt und kennzeichnet: Sie hat ihre Kopfbilder perfekt zu Papier gebracht. Ihre bildhaften Schriftzeichen sprechen uns an, sie sprechen mit uns, in mal kurzen, mal längeren Sätzen. Wir lauschen zeitverloren gebannt. Und wir hören und sehen schon jetzt den Film, der aus diesem Roman entstehen könnte. Ja, es ist zweifellos ein eindrucksvoller Debütroman, der zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 landete, der mit dem aspekte-Literaturpreis 2023 und mit dem Jürgen Ponto-Preis 2023 ausgezeichnet wurde/wird. Der aspekte-Literaturpreis wurde der Autorin im Rahmen der Frankfurter Buchmesse überreicht. Den Jürgen Ponto-Preis wird Charlotte Gneuss am 23. November in Frankfurt erhalten. „Charlotte Gneuß, die ab sofort zu den Besten der jüngsten Generation deutschsprachiger Autorinnenschaft zu rechnen ist, beweist: Die Geschichte lehrt, aber ihre Schüler belehren nicht“, so die Jury. Genau so ist es.
Charlotte Gneuss: „Gittersee“
S. Fischer Verlag
Roman
240 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-10-397088-3
Weitere Informationen (Verlag)
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