„Der Sprache den Freipass geben, damit sie laufe…“ Dieser Satz aus Günter Grass Erzählung „Das Treffen in Telgte“ bildete die Grundlage für Titel und Inhalt der sechsbändigen Reihe „Freipass“.
Seit 2015 erschien der „Freipass“ alljährlich im Ch. Links Verlag, als Periodikum veröffentlicht von der Günter und Ute Grass Stiftung. Mit dem sechsten Band geht diese Reihe nun zu Ende. Sozusagen mit dem Tod Ute Grass. Sie starb am 24. April 2021 und folgte ihrem Mann, dessen Tod die literarische und literaturinteressierte Welt seit dem 13. April 2015 betrauert.
Seit Erscheinen begeisterte das „Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik“, so der Untertitel, nicht nur Grass-Liebhaber. Damit ist nun Schluss. Wir müssen uns mit den bisherigen Büchern dieser Reihe zufriedengeben. Dass der Freipass so lesenswert ist und bleiben wird, ist der atemberaubenden Themenvielfalt und der hervorragenden Redaktion von Grass langjährigem Lektor Dieter Stolz zu verdanken. Und natürlich der Stiftung selbst.
Ute Grass (1936-2021) war es, die bereits in der Konzeptionsphase gemeinsam mit ihrem Mann 2013/14 darauf hinwirkte, dass der Freipass sich nicht auf das Lebenswerk Günter Grass (1927-2015) und dessen Rezeption überall in der Welt beschränken sollte. Das Stifterehepaar wünschte, die Schriftenreihe möge zudem wechselnde Themenschwerpunkte ins Zentrum rücken. Und so geschah es sechs Jahre lang. Im 2015 erschienenen ersten Band stand neben dem Dichter, Schriftsteller, Bildhauer und politisch aktivem Bürger Günter Grass die Schriftstellerin Irmtraud Morgner (1933-1990) im Mittelpunkt. Ein guter Auftakt dieser Reihe, eine gute Wahl der Herausgeber Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa, denn die große Epikerin hatte sich in der DDR immer wieder auch selbst Freipässe erkämpfen müssen. Ergänzend hierzu waren unter dem in allen Bänden wiederkehrenden Motto „Zunge zeigen“ in Band 1 zum Thema „Der NSA-Skandal und die Folgen“ Arbeiten zu lesen von Juli Zeh, Eugen Ruge und Steffen Kopetzky. Die Aufzählung der namhaften Autorinnen und Autoren, die in allen sechs Bänden mitgewirkt haben, ließe sich seitenlang fortsetzen.
Im zweiten Band bildet neben Günter Grass ein vielstimmiges Porträt Heinrich Bölls (1917-1985) das Zentrum im Vorfeld zu dessen 100. Geburtstag. Grass selbst hatte sich gewünscht, neben dem kämpferischen Engagement Bölls möge hier dessen ästhetische Leistung für die deutsche Literatur nach 1945 im Vordergrund stehen. Dies auf dem Hintergrund Bölls (oft verleugneter) Fähigkeit, die geschriebenen Wörter „nach Maßen der Kunst zu setzen“, wie es im Vorwort heißt. Beigefügt sind diesem Freipass eine CD mit Bölls Rede „Versuch über die Vernunft der Poesie“ anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1972 sowie eine CD mit der Grass`schen Nobelpreisrede „Fortsetzung folgt…“ von 1999.
Band 3 widmet sich dem „Widerhall auf das Jahr der Revolten 1968“, so der Untertitel des 2018 erschienenen Freipass. Auch diese Thematik lag Günter Grass bereits bei den Vorgesprächen zum Konzept des Forums sehr am Herzen. Prag, Paris, Berlin und die Folgen werden im Zusammenhang mit den 1968er Revolten beleuchtet. Ein weiterer Schwerpunkt würdigt den 125. Geburtstag von Otto Pankok, Grass` künstlerischem Leiter in den Düsseldorfer Jahren 1948 bis 1952. Freipass 3 beschäftigt sich mit dem sozial-kritischen Werk Pankoks, das immer wieder auf verfemte Minderheiten aufmerksam machte, und mit Pankoks Engagement für Roma und Juden im Dritten Reich. Die Grass-Forschung bietet zudem in diesem Band einen Überblick über Formen und Themen der Lyrik bei Grass und Untersuchungen der Beziehungen zu dessen langjährigem Freund und Kollegen Peter Rühmkorf sowie zum Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki.
In Band 4 wird von der Künstlerbegegnung Günter Grass und Horst Janssen (1929 – 1995) Zeugnis abgelegt. Wir erfahren hier, Janssen erklärte sich 1965 auf Bitte von Grass einverstanden, die „Blechtrommel“ zu illustrieren. Doch daraus wurde nichts: Janssen sagte das aufwendige Projekt als „zu groß für mich“ ab. Zu einem Grass-Porträt kam es immerhin. Das ziert nun diesen Band als Coverbild. Neben dem Horst-Janssen-Schwerpunkt wird auf die Rolle der Grass-Übersetzer eingegangen. Außerdem werden neue Einsichten zum Schulklassiker „Katz und Maus“ geboten und erstaunliche Erkenntnisse zu den Einkünften Theodor Fontanes. Hinzukommen weitere literaturwissenschaftliche und bildkünstlerische sowie politische Beiträge. Zu entdecken gibt es zudem Aufschlussreiches über das Kaschubische, das durch Grass weltweit zum Begriff geworden ist. „Zunge zeigen“ bietet diesmal eine Überblicksskizze politischer Initiativen von Schriftstellern und Schriftstellerinnen und deren Rektionen auf Besorgnis erregende Phänomene.
Band 5 beschäftigt sich mit Paul Celan (1920-1970), der sich in Paris das Leben nahm und von dem Günter Grass sagt, er habe „ungeheuer von ihm profitiert“. Celan-Auftakt bildet ein Gespräch Helmut Böttigers mit Günter Grass über Paul Celan, übertitelt mit: „Das war die schwierigste Freundschaft, die ich erlebt habe“. Das macht neugierig wie so vieles in dieser Freipass-Reihe. So auch das Thema Streitkultur, das sich mit historischen Fällen und aktuellen Debatten beschäftigt. Dabei geht es auch um Literaturstreitszenarien. Fälle wie die publizistischen Auseinandersetzungen um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ von 1990. Oder der Spiegel-Essay „Anschwellender Blockgesang“ von Botho Strauß von 1993. Oder Peter Handkes Reisebericht „Gerechtigkeit für Serbien“. Ein weites Feld auch dies. Zum Thema „Zunge zeigen“ äußert sich diesmal u.a. Andreas Maier in seinem Beitrag „Meine Einheit war eine Verneigung“. Und Robert Menasse fragt sich, „Was hat dein Briefmarkenalbum mit dem Fall der Mauer zu tun?“
Nun also der sechste und letzte Band. Der stellt noch einmal Günter Grass als Schriftsteller, Künstler und engagierten Zeitgenossen in den Mittelpunkt. Und damit soll es nun vorbei sein? Wie schade! Auch die vielen zeitzeugenden Fotos, die Fundstücken-Zeichnungen und sonstigen vielsagenden Abbildungen werden wir vermissen. Wie war das noch am Anfang? Damals, im ersten Freipass 2015, gab Redakteur Dieter Stolz seinen persönlichen Erfahrungsbericht ab und plauderte im Rahmen seiner Antrittslesung als Honorarprofessor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität sozusagen aus dem Nähkästchen. Er warf seinen Blick hinter die Grass-Kulissen und ließ Zuhörer und Leser daran teilhaben: „Mein Grass zaubert auf weißem Papier und ist immer für eine Überraschung gut. Mein Grass setzt auf die Komik des Scheiterns. Mein Grass bedeutet mir jenseits besitzanzeigender Fürwörter viel.“ An anderer Stelle heißt es in dem Vortrag: „Mein Grass, dein Grass, unser Grass…“ Das ist nun vorbei. Jedenfalls, was diese Reihe angeht. Der Freipass ist Geschichte. Lesenswert bleiben alle sechs Bände. Und Grass bleibt gegenwärtig.
Denn: Viele, die in diesen Bänden mit Beiträgen verewigt sind, haben uns Lesern Fundsachen aus den Archiven und Beiträge zur Grass-Forschung zugänglich gemacht. Sie haben uns ermöglicht, unser Bild (weiter) zu entwickeln über den Literaturnobelpreisträger von 1972, der damals ausgezeichnet wurde für „eine Dichtung, die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat“. Günter Grass, der selbst mit der gesamten Familie Vertreibung erlebt hatte, dem das Thema „Zunge zeigen“ als durchgängiges Motto dieser Reihe auch deshalb so wichtig war.
Im Juni 2021 beschloss der Vorstand der Günter und Ute Grass Stiftung, dass der sechste „Freipass“ zugleich der letzte sein würde. Gestartet wurde das vom Stifterehepaar Grass initiierte Projekt 2015 als ein „Periodikum, das Raum bieten soll für die Behandlung wichtiger Fragen der Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts“. So steht es geschrieben auf der Coverrückseite des ersten Bandes. Und so geschah es sechs Jahre und sechs Bände lang. Diese Periode ist nun vorbei. Im Vorwort des letzten Bandes, überschrieben mit „Statt eines Vorworts/Wir trauern um Ute Grass“ wird am Ende allen Autorinnen und Autoren noch einmal ganz herzlich gedankt für die Unterstützung des Projektes.
Freipass, Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung
Herausgegeben von Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa,
Redaktion: Dieter Stolz, Verlag Ch. Links, Berlin
Hardcover, s/w und farbige Abbildungen
Band 1, März 2015, ISBN: 978-3-86153-827-1, 296 Seiten,
Band 2, September 2016, ISBN: 978-3-86153-929-2, 328 Seiten
Band 3, Februar 2018, ISBN: 978-3-86153-992-6, 360 Seiten
Band 4, August 2019, ISBN: 978-3-96289-067-4, 304 Seiten
Band 5, August 2020, ISBN: 978-3-96289-101-5, 272 Seiten
Band 6, Februar 2022, ISBN: 978-3-96289-145-9
Weitere Informationen (Ch. Links Verlag)
Weitere Informationen (Homepage Günter und Ute Grass Stiftung)
Weitere Informationen (Freipass)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment