Literatur
Feuer am Fuß 11

Den etwas unrund laufenden Mustang hatten sie vor der Stadtgrenze einem Gebrauchtwagenhändler für vierhundert Dollar abgekauft. Der Mann war weder an ihren Ausweisen noch an den Führerscheinen, Sozialversicherungsnachweisen oder Kreditkarten interessiert, er strich das Geld bar ein.
Sechs Stunden waren Cording und Ted Holcomb mittlerweile unterwegs, sechs Stunden, in denen sie es von Detroit nach Fort Wayne in Indiana geschafft hatten. Cording tat das, was er Ted versprochen hatte: Er hörte ihm zu. Da sein Begleiter keinen Führerschein besaß, war er der Verpflichtung enthoben, ihm permanent in sein beklagenswertes Gesicht schauen zu müssen. Ted sah nämlich wie jemand aus, der sein Leben darauf verwendet hatte, Situationen zu vermeiden, in denen er verprügelt werden konnte und der nun in der Rückschau feststellen musste, dass dies gründlich in die Hose gegangen war. Aber Cording mochte den Typen. Er mochte den Stolz dieses Mannes, der ein extremes Gerechtigkeitsempfinden offenbarte, dessen Schilderung aus dem FEMA-Camp trotz aller erlebten Schrecken sachlich blieb und frei von jener anklägerischen Attitüde, die kämpferischen Umweltschützern so häufig zu eigen war. Hinter allem was Ted erzählte stand die aus der Unschuld geborene Frage, die auch Cording seit Jahren begleitete: WARUM?!
„Die indianischen Wachen wissen nicht mehr, was und wie ihre Großväter gelebt haben”, hörte er Ted sagen, „sie sind systemimmanente, käufliche Diener unserer Geheimdienste, sie sind… wie soll ich sagen, sie sind…”
„Entkernt?”
„Genau. Im Inneren vollkommen entkernt. Aber aufmerksam und geschmeidig im Gelände. Genau das, was die KZ-Betreiber brauchen. Im Gelände sind die Indianer den weißen Wachen noch immer überlegen, auch ohne MP und Suchscheinwerfer.”
Obwohl inzwischen über viele Einzelheiten informiert, fragte sich Cording noch immer, wie Holcomb die Flucht aus dem extrem gesicherten Camp gelingen konnte. Sein Weg in die Freiheit glich einem Balanceakt auf einem Schwebebalken, über den eine Reihe scharfkantiger Pendel in Kopfhöhe unrhythmisch hin und her schwangen. Der gute Ted aber verfügte über die Geschmeidigkeit einer Bohnenstange. Um einem Rechtschaffenen seines Formats in die Freiheit zu verhelfen, bedurfte es schon einer ganzen Armee von Schutzengeln. Okay, es war ihm gelungen, die Vergitterung vor dem Barackenfenster in tagelanger Kleinarbeit zu lösen. Aber allein die Tatsache, dass er in der Nacht seiner Flucht die Scheibe einschlagen konnte, ohne dass dies draußen bemerkt wurde, grenzte an ein Wunder. Dann der Weg durch die rotierenden Lichtfinger der Scheinwerfer zur Wäscherei, wo der Lieferwagen stand, der einmal pro Woche die Uniformen der Wachmannschaften einsammelte, um sie außerhalb des Reservats in Form bringen zu lassen. Logisch wäre es gewesen, wenn Ted sich zwischen den Wäschesäcken auf der Ladefläche versteckt hätte, aber er hatte es vorgezogen, unter den Wagen zu kriechen. Als dieser dann Richtung Haupttor fuhr, krallte er sich an die Anhängerkupplung und ließ sich einfach mitschleppen. Man muss sich das vorstellen: Ein Lieferwagen schleift einen ein Meter neunzig großen Kerl hinter sich her quer durch ein Gefangenencamp und keiner bemerkt es! Cording legte dem Ritter von der traurigen Gestalt ostentativ die Hand aufs Knie.
„Und die Wachen am Haupttor? Was war mit denen?”, fragte er. „Kontrollieren die nicht?”
„Doch, doch. Aber in diesen Lieferwagen werfen sie meist nur einen kurzen Blick, lassen den Fahrer unterschreiben und winken durch. Der Wagen fährt jeden Freitag um die gleiche Zeit durchs Tor. Und zu dieser Zeit spielen die Seahawks und die 49ers in der NFL. Aber was nützt das, wenn du draußen schon nach wenigen Metern vor dem Elektrozaun geschunden am Boden liegst und jeden Moment damit rechnen musst, dass die Sirenen aufheulen. Seltsamerweise passierte das nicht, ich hatte wohl zu viel Staub angesetzt, sodass ich von den Findlingen und Beifußknäueln nicht zu unterscheiden war. Aber die eigentliche Prüfung stand noch bevor. Ich musste die Reihen der indianischen Wachposten knacken, die rund um das Camp postiert sind und von denen jeder einen Bereich von dreihundert Metern kontrolliert.”
Ted zog das Hemd aus der Hose und zeigte Cording seinen nackten Oberkörper. Um Himmels willen! Die Haut sah aus, als sei sie mit Peitschenhieben und Messerstichen nur so massakriert worden. Ted Holcomb schaute aus dem Fenster, er wollte nicht, dass Cording sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Sie wurden von einer Motorradstreife überholt , die sie aber keines Blickes würdigte.
„Was sind das für Gefangene in dem Camp?”, fragte Cording, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.
„Leute wie du und ich, es kann jeden treffen. Schon mal was von Prolonged Detention gehört? Geht auf Barack Obama zurück, dem sie in ECOCA ja demnächst den Prozess machen wollen. Die Obama-Administration hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem jeder Mensch, ob Amerikaner oder nicht, in den USA ohne Gerichtsbeschluss dauerhaft inhaftiert werden darf, wenn er in Verdacht steht, eine strafbare Handlung ausführen zu wollen. Man hat zwar noch nichts gemacht, aber es könnte ja sein. Das reicht, um all jene wegzusperren, die den Herrschenden im Weg stehen. Und wenn das nicht wirkt, hält die Regierung noch einen Trumpf in der Hinterhand: den nationalen Notstand. Sobald der Präsident den nationalen Notstand ausruft, sieht sich die Bevölkerung der USA der totalen Kontrolle durch die FEMA ausgesetzt. Die FEMA, das wissen Sie als Deutscher vielleicht nicht, ist die Koordinationsstelle für Katastrophenhilfe und dem Heimatschutzministerium unterstellt. Wenn die FEMA in Aktion tritt, wird sich der Alltag in diesem Land von Grund auf verändern. Die exekutiven Anordnungen sehen unter anderem Folgendes vor: Beschlagnahme aller Kommunikationsmedien. Abschaltung der Elektrizität und Beschlagnahme aller Brennstoffe. Beschlagnahme aller Lebensmittel und Vorräte. Beschlagnahme aller Farmen und deren Gerätschaften. Beschlagnahme aller privaten und öffentlichen Fahrzeuge. Und jetzt Achtung: Die Bevölkerung ist in Arbeitsgruppen aufzuteilen, Familien sind zu trennen. Die Bewegungsfreiheit für Gruppen und Einzelpersonen wird eingeschränkt.” Ted ließ ein kurzes flaches Lächeln erkennen. „Bei einem nationalen Notstand ist die FEMA außerdem ermächtigt, Pläne zu entwerfen, um Energie, Preise und Löhne sowie die Geldzufuhr zu US-Banken zu kontrollieren. Zudem darf sich die Behörde der Nationalgarde bedienen, um die Einhaltung der Notstandsgesetze zu überwachen. Der Kongress ist für die Dauer des Notstands offiziell entmachtet. Das heißt im Klartext: Der Präsident kann die Dauer dieses Ausnahmezustands nach Belieben festsetzen und verlängern. Wie klingt das in den Ohren eines aufgeklärten Mitteleuropäers?”
Der Polizist auf dem Motorrad kam ihnen nun entgegen. Diesmal schaute er sehr genau hin. Im Rückspiegel sah Cording, dass der Mann rechts ran fuhr, die Maschine aufbockte und in den Straßengraben pinkelte.
„Wie viele dieser Detention-Camps gibt es zurzeit?”, fragte Cording.
„Amnesty schätzt, dass es weit über tausend sind. Google hat das vor zwanzig Jahren mal kartographiert. Damals waren es achthundert. Ist natürlich sofort gelöscht worden. Die größten FEMA-Camps haben ein Fassungsvermögen von vierzigtausend. Wenn man das hochrechnet, kommt man locker auf fünfzehn Millionen Betten.”
„Betten?!”
„Ja, so nennen sie den Platz an der Wüstensonne. Als würde man sich in einem Sternehotel befinden. Der Hammer aber kommt jetzt: Die FEMA hat Millionen von Plastiksärgen anfertigen lassen. Sie lagerten eine Zeit lang ganz offen auf gemieteten Feldern in Nevada, Utah, Oklahoma und Nebraska. Jetzt sind sie verschwunden, ohne dass wir etwas über ihre Bedeutung erfahren hätten.”
Cording sträubten sich die Nackenhaare. Angesichts dieser Umstände fragte er sich, warum sich nicht mehr Bundesstaaten von Washington lossagten. Bisher waren es lediglich zwölf von fünfzig, aber seit dem Übertritt Massachusetts’ und Maines vor vier Jahren hatte kein Staat mehr den Mut dazu gefunden – die von der US-Regierung angedrohten Sanktionen gegen abtrünnige Bundesstaaten zeigten offenbar Wirkung. Die Staaten, die den Schritt gewagt hatten, verfügten allesamt über wichtige Militärstützpunkte, weshalb es der Regierung in Washington nicht ratsam erschien, einen inneramerikanischen Krieg vom Zaun zu brechen. Der Rest war relativ leicht unter die Knute zu bringen. Jedenfalls solange man die richtigen Gouverneure an die Macht brachte, was im „demokratischen” Amerika eine der einfachsten Übungen war. Persönlichkeiten wie den ehemaligen US-Präsidenten Hubert Selby, der sich als Gouverneur von Montana dem Hegemonialanspruch widersetzt und mit Idaho, Washington und Montana einen eigenen Nordstaat gegründet hatte, gab es nicht viele.
Ted Holcomb deutete auf ein verwittertes Schild am Straßenrand: ‚RICK’S DINER, 400 Meter’. Cording bog auf den Parkplatz, stieg aus, machte einige Kniebeugen und trat an der Seite dieses geschundenen, unerschrockenen Optimisten ins LUNCHPARADIES, wie die wackeligen Buchstaben auf dem Dach den Schuppen nannten.

Rick’s Diner war kein Paradies, sondern ein Vorhof zur Hölle, in dem sich ein Bündel Sonnenlicht mühsam seinen Weg durch die tanzende Staubschicht zum Tresen bahnte, hinter dem Eleanor Rigby ihren Lippenstift etwas zu blutig und nur ungefähr aufgetragen hatte. Sie war die einzige Frau unter etwa dreißig Männern zwischen vierzig und sechzig, die in düsteren Ecken auf Spielkarten starrten, ihr Steak bepfefferten oder in vorgebeugter Haltung Kreuzworträtsel lösten, was für Cording aussah, als würden sie Fluchtrouten studieren. Ted und er fanden kaum Beachtung, allein Eleanor verfolgte jede ihrer Bewegungen. Auf der Videowand fand ein rosabunter Gymnastikkurs statt, der unter diesen Männern nicht die geringste Aufmerksamkeit erregte.
Wie waren die Leute eigentlich auf die Idee gekommen, dass weiße Haut den Träger zu etwas Besserem erhob?, dachte Cording, als er sich unter den Anwesenden umsah. Weiße Haut war unterste Schublade unter den Hautangeboten. Es war alles wie immer, wenn er sich unters Volk mischte, nur eines fehlte hier: der aufkommende Ekel. Ricks Schuppen war eine konfliktfreie Zone, das konnte man nicht unbedingt erwarten. Was auffiel, war die Abwesenheit von Gruppenfeindseligkeiten. Angenehm. Dieses Gefühl wurde durch die Abwesenheit von Rock'n'Roll noch verstärkt. Jemand hatte der Musicbox den Stecker gezogen. Oder sie tat es einfach nicht mehr. Was zum totalen Stillstand auf dem „Highway to Hell” geführt hatte. Aber wer brauchte Rock'n'Roll, wenn er so ein Wurlitzer-Prachtstück im Hause hatte, das selbst im Vorhof zur Hölle vor sich hinglitzerte wie das Licht eines längst erloschenen Sterns …
„Was kann ich für euch tun, Jungs?”, fragte Eleanor und wischte den Tresen vor den Hockern, auf denen sie Platz genommen hatten. „Wir haben Hühnchen und Steak. Steak und Hühnchen…” Sie lächelte ihr bewährtes, wie auf Schienen gleitendes Lächeln.
„Die Tafel Schokolade dort, die hätte ich gern”, sagte Cording und deutete auf die Cadbury zwischen den Rumflaschen. „Dazu einen Liter Limo, und zwei doppelte Bourbon.” Er sah Ted an, Ted nickte. Cording drehte sich um, Ted auch. Allmählich erschloss sich ihnen der Grund für die Abwesenheit von Gruppenfeindseligkeiten im Lunchparadies. Es gab kein Gefälle mehr. Oben und unten gab es nicht mehr. Dafür hatte das Leben gesorgt. Hier ging es jedem an die Existenz. Die Männer klagten über marodierende Banden, die ihre Farmen überfielen, das Vieh abschlachteten und auch vor Mord nicht zurückschreckten. Es verband sie der Hass auf Banken und Monsanto. Auf Exxon und Global Energy und alle anderen Blutsauger, die sich ihre Felder für teures Geld erschlichen hatten und sie nun aufs gröbste malträtierten, was nicht nur die Landschaft verschandelte, sondern auch das Grundwasser in der Region.
„Fracking…”, bemerkte Ted, „die Leute reden vom Fracking. Aufbrechen. Eine Methode zur Gewinnung von sogenannten unkonventionellen Gasreserven. Wir werden die Bohrtürme noch zu sehen kriegen. Sie stehen im gesamten Restgebiet der Vereinigten Staaten. Schon verrückt, welchen Aufwand die Herrschenden betreiben, um an die restlichen fossilen Ressourcen heranzukommen, die ihr zusammenbrechendes System noch einige Jahre stützen könnten. Dabei lassen sie einen ganzen Kontinent aussehen wie eine weggeworfene, von allen Seiten bestochene Voodoopuppe.”
„Kommt mal mit, Jungs”, unterbrach Eleanor, „ich zeig euch was. Na los, was ist?”
Sie folgten ihr in die Küche. „Bleibt da stehen, ist besser. Was ich euch jetzt zeige, ist keine Hexerei. Nicht, dass ihr mich noch bei den Mormonen verpfeift oder bei der Heiligen Kirche der Letzten Tage!” Sie drehte den Wasserhahn über dem Spülbecken auf, riss ein Streichholz an und führte es vorsichtig an den Strahl. Als sie sich auf fünf Zentimeter genähert hatte, schoss eine Stichflamme bis unter die Decke. Eleanor war rechtzeitig zur Seite gewichen, sie kannte das. „Brennendes Wasser. Schon mal gesehen?”, fragte sie und zündete ein weiteres Streichholz. Der Spuk wiederholte sich, diesmal schossen die Flammen in die Breite. „Dieses Phänomen finden Sie in unserer Gegend in jedem zweiten Haushalt. Ich weiß gar nicht, wie viele Leute sich schon schwere Verbrennungen zugezogen haben. Die meisten von ihnen Kinder…”
„Beim Fracking wird unter hohem Druck Flüssigkeit ins Gestein gepumpt”, bemerkte Ted an Cording gewandt, „zum Teil mehrere Tausend Meter tief.”
„Oh gut, da scheint sich jemand auszukennen”, sagte Eleanor, „erklären Sie es ihm, ich kann das so schlecht.” Dabei füllte sie ein Glas mit Leitungswasser und hielt die trübe Brühe kopfschüttelnd ans Licht.
„Diese Flüssigkeit, von der ich eben sprach, ist schon mal das erste Problem”, fuhr Ted sachlich fort. „Es ist eben nicht nur Wasser. Es ist ein Chemikaliencocktail. Der soll nun dazu führen, dass sich im Sediment kleine Kanäle öffnen, durch die das in ihm eingeschlossene Gas an die Oberfläche drängen kann. Damit es sich rentiert, muss man diese Kanäle für das Gas offen halten. Also werden die Kanäle durch Stents auseinandergedrückt, man muss sich das wie eine künstliche Gefäßstütze vorstellen. Die verwendeten Chemikalien, unter anderem Säuren, Biozide, Oxidationsmittel, Enzyme und Korrosionsschutzmittel in Gelen oder Schäumen, sind enorm giftig, na klar. Das Irre ist, dass sie uns immer noch nicht gesagt haben, was da eigentlich hinuntergepumpt wird. Mit dem hochgedrückten Gas steigen natürlich auch die Dämpfe dieser Chemikalien auf. Backflow heißt das. In vielen Staaten empfiehlt die Gesundheitsbehörde der Landbevölkerung, das Leitungswasser nicht zu trinken und beim Duschen für eine effektive Lüftung zu sorgen.”
„Wie absurd ist das denn?!”, bemerkte Eleanor. „Man sollte das Pack aus den Vorstandsetagen der Energiekonzerne aufknüpfen. Nein, noch besser: Man sollte es unter hohem Druck ins Gestein pumpen”, lachte sie heiser.
Als Cording und Ted wieder auf ihren Barhockern Platz genommen hatten, trat einer von den Spieltischcowboys auf dem Weg zur Toilette an sie heran und fragte: „War das euer blauer Mustang auf dem Parkplatz?”
„Ja, wieso?”, antwortete Cording.
„Wieso war?!”, schob Ted entsetzt hinterher.
„Weil er sich gerade aus dem Staub macht. Wenn ihr Glück habt, könnt ihr ihn noch sehen.”
Ted sprang auf und rannte über den Parkplatz auf die Straße, Cording folgte mit einigem Abstand. Sah schon komisch aus, wie sie da ihre Hände gegen die Sonne erhoben und Zeuge wurden, wie der flüchtende Mustang auf flirrender, schnurgerader Bahn kleiner und kleiner wurde. Gut, dass sie ihre Rücksäcke mitgenommen hatten, Papiere und Klamotten. Sie wollten gerade umkehren, als sich ihr Auto in einem glühenden Feuerball überschlug, eine Weile mit dem Acker im Rücken Flammen spie, um schließlich nur noch schwarzen, dicken Qualm abzusondern, dessen Rauchzeichen jedes Indianervolk in Entzücken versetzen musste. Vielleicht hätten sie daraus den Tod der Zivilisation gelesen, auf den sie doch schon so lange warteten…
„Das war’s”, hörte Cording Ted sagen. „Ich kehr um. Der Drohnenangriff hat mit Sicherheit mir gegolten. Solange sie glauben, dass ich tot bin, hab ich noch eine Chance. Mal sehen, ob ich da drinnen jemand finde, der mich nach Springfield fährt, sind nur zwanzig Meilen. Von dort mit dem Zug weiter nach Denver.”
„Vielleicht hat der Angriff ja mir gegolten”, gab Cording zu bedenken.
„Egal, ich bin raus, ich habe Ihnen das Camp ja ausführlich beschrieben, Lage, Bewachungssystem etcetera. Viel Glück.”
Ted, der in den letzten Stunden durch seine ruhige, fast abgeklärte Haltung imponiert hatte, wirkte plötzlich wie ein anderer Mensch. Ted auf der Flucht. Ted auf der Flucht war ein anderer Mensch. Er steckte voller Energie, Wille und Intuition agierten nun Hand in Hand. Und natürlich bekam so einer sofort die gesuchte Mitfahrgelegenheit. Cording stand auf dem Asphalt und winkte dem Davoneilenden hinterher. Als der außer Sichtweite war, wischte er sich mit dem Unterarm über die Stirn. Dieser stickige, verschmutzte Augustnachmittag hungerte förmlich nach einem Gewitter…

Cording nahm im dritten Bus Platz, und zwar auf der rückwärtigen Sitzbank. Er dachte an Eleanor Rigby, die eigentlich Susann hieß und ihn freundlicherweise hergefahren hatte. Was für eine Frau! Nachdem ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war, betrieb sie Rick’s Diner nun alleine. Die zumeist männliche Kundschaft respektierte sie, das hatte natürlich auch mit Harry zu tun, der in einer dunklen Ecke des Restaurants auf der Lauer lag, was der Laufkundschaft meist verborgen blieb, den Stammgästen aber stets bewusst war. Harry war ein ausgewachsener Deutscher Schäferhund, der sich seine eigene Meinung von den Gästen bildete, aber ohne Eleanors Einverständnis nicht ins Geschehen eingriff.
Ein Mann in einem bis an die Knöchel reichenden rissigen Ledermantel wuchtete sein Gepäck auf die Ablage und nahm auf einem der Sitze zu seiner Linken Platz, obwohl Cording eben noch zuversichtlich war, dass die Reihe frei bleiben würde, schließlich war der Bus nur zu zwei Dritteln besetzt. Der Kerl würdigte ihn keines Blickes, er schlug den Mantelkragen hoch, zog den verbeulten Hut ins Gesicht und lehnte den Kopf für ein kleines Nickerchen an die Scheibe. Vorne stieg die schwer bewaffnete Bordwache ein. Dass Greyhound Lines ihre Busse von schwarzen Sheriffs begleiten ließ, kam bei den Reisenden gut an, wie Cording den Gesprächen am Ticketcounter entnommen hatte; ihn selbst beruhigte das keineswegs. Der kugelsichere Konvoi, der sich jetzt durch ein herunter gewirtschaftetes, von stillgelegten Bahnlinien und Hochstraßen durchzogenes Gewerbegebiet den Weg Richtung Mississippi bahnte, bevor er auf dem Freeway 55 nach Westen ausscherte, erinnerte an die gute alte Postkutschenzeit, als die Vierspänner von Wells Fargo von hier aus ebenfalls im Verbund ihre risikoreiche Reise in die Weiten der Prärien aufnahmen. Der gigantische, hundertzweiundneunzig Meter hohe Gateway Arch am Westufer des Flusses erinnerte daran, dass die Stadt lange Zeit der Ausgangspunkt dieser Expeditionen gewesen war. Von hier aus wurde der „Wilde Westen” erobert, von hier aus überrollten Generationen von Siedlern und Felljägern die einheimischen Kulturen. In Gateway City, wie sich St. Louis noch immer nannte, wurde der Keim der Zerstörung gelegt, die schließlich die gesamte Welt in Mitleidenschaft ziehen sollte. So muss man es sehen, dachte Cording.
Inzwischen aber hatte sich das Blatt gewendet, inzwischen befanden sich die USA territorial gesehen auf dem Rückzug, im Inneren wie auch außen. Das Selbstwertgefühl aus der Frontier-Periode war längst gebrochen, die Bürger der Vereinigten Staaten waren von ihrer Regierung quasi in Geiselhaft genommen worden, um sie überhaupt noch bei der Stange halten zu können.
Cording rollte sich auf den drei freien Plätzen zusammen. Er hatte genug von dem selbst erteilten Geschichtsunterricht. Er hatte genug von den Baustellen entlang der Strecke, von den gelben Schutzhelmen, den Kränen und aufblitzenden Magnesiumlichtern. Bauarbeiter waren für ihn ein Synonym für Zerstörung. Törichte Cowboyfiguren, knietief in Sinnlosigkeit und Schlamm steckend. Mein Gott, war er müde…

Die nächste Folge (Feuer am Fuß 12) erscheint am Freitag, 27. November 2015.
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Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder exklusiven Folge Hintergrundwissen in einer „Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll ein Einblick in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks, sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

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Gasland (Fracking)

Fracking (von englisch to fracture ‚aufbrechen‘, ‚aufreißen ist eine Methode zur Erzeugung, Weitung und Stabilisierung von Rissen im Gestein einer Lagerstätte im tiefen Untergrund, mit dem Ziel, die Durchlässigkeit der Lagerstättengesteine zu erhöhen. Dadurch können darin befindliche Gase oder Flüssigkeiten leichter und beständiger zur Bohrung fließen und gewonnen werden.
Beim Fracking wird durch eine Bohrung, unter hohem Druck von mehreren hundert Bar eine Flüssigkeit („Fracfluid“) in den geologischen Horizont, aus dem gefördert werden soll, gepresst. Als Fracfluid dient Wasser, das zumeist mit chemischen Zusätzen und Stützmitteln, wie z. B. Quarzsand, versetzt ist.
Seit Ende der 1940er Jahre wird Fracking vor allem bei der Erdöl- und Erdgasförderung sowie bei der Erschließung tiefer Grundwasserleiter für die Wassergewinnung und der Verbesserung des Wärmetransportes bei der tiefen Geothermie eingesetzt. Seit Anfang der 1990er Jahre und insbesondere in den USA ab etwa dem Jahr 2000 fokussiert sich die Förderung mittels Fracking auf sogenanntes unkonventionelles Erdöl und Erdgas (u. a. „Schiefergas“). Der dortige Fracking-Boom veränderte den US-Energiemarkt erheblich und sorgte für einen Preisverfall. Die US-Regierung unterstützt daher seit etwa 2013 Bestrebungen zum verstärkten Export von Flüssigerdgas nach Europa und Japan, unter anderem mit beschleunigten Genehmigungsverfahren.]
Wie bei allen Bohrtechniken bestehen beim Fracturing Umweltrisiken. Dahingehend besonders problematisch ist das Fracking zur Förderung fossiler Kohlenwasserstoffe, nicht zuletzt weil hierbei dem Fracfluid Chemikalien, u. a. Biozide, zugesetzt werden. Risiken bestehen insbesondere hinsichtlich:
+ einer Verunreinigung des oberflächennahen, für die Trinkwassergewinnung genutzten Grundwassers mit Fracfluiden und den darin enthaltenen Chemikalien durch Lecks in der Verrohrung
+ einer Verunreinigung von Oberflächengewässern durch die nach dem Frack-Vorgang wieder am oberen Ende der Bohrung austretenden Fracfluide (den sogenannten Backflow) und die darin enthaltenen Chemikalien
+ Migration von Stoffen aus der Lagerstätte in andere Schichten
- Vibrationen beim Bohren und regelmäßigen Fracken
Kritiker befürchten, dass neben kleinen und gewollten Mikrobeben auch größere Beben ausgelöst werden.
Quelle: Wikipedia

ZITAT
Bettina von Arnim„Wenn ich der Natur lausche, zuhören will ich es nicht nennen, denn es ist mehr, als man mit dem Ohr fassen kann, aber lauschen, das tut die Seele.- Siehst Du, da fühl ich alles, was in mir vorgeht, ich fühl den Saft, der in die Bäume hinaufsteigt bis zum Wipfel, in meinem Blut aufsteigen. Alles was ich anseh fühl ich plötzlich ganz – als wär ich die Natur selber. Der Seele Element ist also das Schauen, das ist das Lauchen, sie saugt alle Form, das ist die Sprache der Natur. Aber die Natur selbst hat auch eine Seele, und diese Seele will auch geküsst und genährt sein. Ich habe sie geküsst mit meinen Seelenlippen...“
BETTINA VON ARNIM (1785 - 1859) war eine deutsche Schriftstellerin und bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik.

Abbildung: Bettina von Arnim um 1805, Stich von Ludwig Grimm

PRESSESTIMME:
Das Buch überzeugt durch seine positive Grundstimmung und die revolutionären Denkansätze, die hier wirklich mit Herzblut geschrieben und mit großer Überzeugungskraft vorgestellt wurden - davon lebt der ganze Roman. Ich hoffe, dass er noch viele Leser finden wird, die sich von Dirk C. Fleck davon überzeugen lassen, dass unsere Welt etwas besseres verdient hat, als an sich selbst zugrunde zu gehen.
Stuttgarter Zeitung zum „Tahiti-Projekt“


Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.

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