Kultur, Geschichte & Management

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Bekanntlich wird die finanzielle Förderung kultureller Aktivitäten nicht in Lotterien verlost, sondern zumeist in Auswahlverfahren durch Jurys vergeben.

Aber ob es sich um Lotterieziehungen oder Juryentscheidungen handelt - auf allgemeines Interesse stößt in jedem Fall ausschließlich das Ergebnis, während die Art und Weise, wie es dazu kommt, meist ein Geheimnis bleibt und dem Walten höherer Mächte zugeschrieben wird. Was dem Wesen des Lotteriespiels entspricht, ist indes bei Juryurteilen völlig verfehlt. Werden die jede Jurierung ausmachenden Entscheidungs- und Selektionsprozesse als solche relativiert, bagatellisiert und ihre (Hinter-)Gründe verschwiegen, bedeutet das eine fahrlässige Verdrängung oder vorsätzliche Verschleierung der Realitäten.

 
In jedem Fall wird die mit der Beteiligung an solchen Verfahren eigentlich übernommene Verantwortung mehr oder minder ignoriert. Dass sich die Mehrzahl der Juroren, aber auch der Jurierten so verhält, sollte nicht allein mit den bekannten menschlichen Schwächen oder mit einer für das Kunstmetier typischen Mentalität (v)erklärt werden. Vielmehr sind die oft fatalistischen oder zynischen Reaktionen aller Beteiligten ein Ausdruck ihres Unbehagens und als Symptom für die strukturelle Unzulänglichkeit der gemeinhin praktizierten Auswahlverfahren zu werten.


Als gleichsam demokratische Institute der freien, offenen Willensbildung organisiert und praktiziert zu werden, würde nicht nur die Qualität und Legitimität der Auswahlverfahren erhöhen. Auch ihre Akzeptanz und Glaubwürdigkeit nähme erheblich zu, da sie mit jenen die gesamte Moderne prägenden Begriffen von »freier Kunst« und »offenem Werk« strukturell übereinstimmten. Folglich würden die zu beurteilenden künstlerischen und kulturellen Aktivitäten sich nicht mehr prinzipiell von den Auswahlverfahren unterscheiden und auf mehr Gerechtigkeit hoffen dürfen.


I. NOTWENDIGKEIT
Auf der Suche nach einem anderen Leben begeben sich immer mehr Menschen auch in die virtuelle Welt. Das verbreitete Bedürfnis, seiner Alltagswirklichkeit zu entfliehen, ist ebenso wie der häufige Gebrauch anderer potenziell oder tatsächlich abhängig machender Surrogate, das Motiv für die Beteiligung an solchen Phänomenen wie »Second Life«. Im Unterschied dazu lag eine wesentliche kulturelle Leistung neuzeitlicher Kunst darin, dem Begehren, aus der bestehenden in eine andere Welt zu entkommen, nicht nur Ausdruck zu verleihen, sondern es mehr oder weniger auch wirklich auslebbar zu machen. Solange in der Kunstwelt Autonomie als Ideal galt, wurde versucht, nach ihr eigenen Gesetzen bestimmte Lebens-, Werk- und Organisationsformen zu schaffen, die total anders als die übrige Welt sein sollten. Wo das gelang, war in der Moderne durch Kunst und nicht mehr durch die Religion ein ebenso sinn- und wertvolles wie alternatives Dasein in und zu dieser Welt gegeben.


Seitdem aber auch die Kunstwelt dem Diktat der Ökonomisierung und dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Marktes gehorcht, sind die ihr eigenen ursprünglich geltenden Wertvorstellungen und Handlungsmaximen durch rein quantitative Kosten- bzw. Ertragskriterien überlagert worden. Infolge dieser ökonomischen Pervertierung prägt auch den Kunstbereich primär das penetrante Bemühen, durch Aufmerksamkeit, Anerkennung und breite Akzeptanz sich die Gunst des Geldes und damit die eigene Existenz zu sichern. Insofern auch künstlerischer Erfolg letztlich nur noch finanziell definiert wird, ist die Drift der Gegenwartskunst zur Publikumswirksamkeit und damit zur Anpassung an den Mainstream unaufhaltsam. 

 
Wie den Klimawandel so hat man auch die Ökonomisierung der Kunst jahrelang bestritten, nicht wahrhaben wollen und immer noch schöngeredet, bis sie schließlich zu einem unbestreitbaren Faktum geworden ist. So ist es für die Wirtschaft schon lange selbstverständlich etwa durch Akzeptanz-, Legitimations- und Reputationsgewinne von der Kunst zu profitieren. Indes haben wir es mittlerweile bereits mit einer zweiten Phase der Ökonomisierung von Kunst zu tun. Derzeit ereignet sich auf dem Kunstmarkt eine gravierende, zur echten Kapitalisierung der Kunst führende Veränderung: »Die Transformation des Kunstmarktes zum Kunstinvestmentmarkt, der Wandel der Kunst zum Investitionsgut«. (1) Nun will die Wirtschaft auch unmittelbar Profit aus der Kunst ziehen und zielt mit direkten und offenen Interventionen auf eine möglichst weitgehende Übernahme des Kunstmarktes und des gesamten Kunstgeschehens. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür stellen die Aktivitäten des Artist Pension Trust dar. (2)


Die Diskussion der mit der Ökonomisierung der Kunst einhergehenden Konsequenzen, hat unlängst einige Studierende meines kunsttheoretischen Seminars erstaunt feststellen lassen, dass die Situation von Kunst und Künstlern heute ja auch nicht viel anders als vor der Französischen Revolution im Feudalsystem sei. Bei genauerer Betrachtung sind dann allerdings gravierende Unterschiede erkennbar geworden, welche die gegenwärtige Lage freilich erst recht problematisch erscheinen lassen: Die Künstler werden von ihren Auftraggebern heute nicht mehr privilegiert, und sie können durch deren Aufträge auch nicht mehr inspiriert werden.


Was einerseits die Privilegierung betrifft, so genossen Künstler seinerzeit am Hof und selbst gegenüber der Kirche besondere Freiheiten, die sich nicht nur in der berühmt-berüchtigten Narrenfreiheit erschöpften. Darüber hinaus erfuhr die künstlerische Arbeit Wertschätzung oder sogar Ehrerbietung, und nicht ausschließlich die berühmten Meister wurden besser als Handwerker entlohnt. Dabei waren die Künstler in ein kulturelles Umfeld eingebunden, in dem Kennerschaft etwas galt und nicht selten sogar bestand.


Heute dagegen wird an den Kunsthochschulen die Kunst als »freie« abgeschafft und ihr Dienstleistungscharakter hervorgehoben. Dennoch wird das Gros der Künstler und Künstlerinnen möglichst gar nicht, aber auf jeden Fall schlechter als jeder Handwerker bezahlt, wobei sich besonders auch die so genannte öffentliche Kulturförderung unrühmlich hervortut. Schließlich wird künstlerische Arbeit heute bestenfalls als Kuriosität bestaunt, und statt von Mäzenen oder Kunstfreunden wird der Kunstbetrieb letztlich von Laien und Spekulanten beherrscht.


Dass andererseits auch keinerlei Inspiration mehr von den Geldgebern und ihren Aufträgen ausgeht, ist den Künstlerinnen und unserer Kultur erst recht abträglich. Wenn Künstlerinnen etwa die Gestaltung der Eingangshalle des Daimler-Chrysler-Museums angetragen wird oder sie eingeladen werden, etwas zu einem Projekt mit dem Titel sculpture@citynord beizutragen, oder ihnen im Rahmen der Altonale auch nur die Ausstattung eines Schaufensters überlassen wird, dann handelt es sich um wirtschaftlich veranlasste, mehr oder weniger beliebige und geistlose Aufgabenstellungen, die bestenfalls zu motivieren, aber keinesfalls zu inspirieren vermögen.


Wenn dagegen der Papst 1515 bei Raffael Wandteppiche für die Sixtinische Kapelle bestellte oder Johann Sebastian Bach von seiner heimischen Kirche den Auftrag für ein Oster-Oratorium erhielt, oder auch nur irgendein Hofkünstler seinen von Gottes Gnaden eingesetzten Landesfürsten porträtieren sollte, so standen dahinter doch immer die Geltungsansprüche und die Gehalte einer auch geistigen Macht, die über die jeweiligen menschlichen und allzumenschlichen Partikularinteressen hinauswies und für die Hervorbringung des Werkes einen sinnvollen Zusammenhang und nicht nur einen finanziellen Rahmen abgab.


Das Dilemma eines Defizits an metaphysischer Inspiration ist ab ca. 1800 für die mit der Säkularisierung aufkommende moderne Kunst zu einem generellen Problem geworden. Als Reaktion darauf wurden Künstler und Kunst selbst zur eigentlichen Inspirationsquelle erklärt. In diesem Sinne wurde der zum Genie überhöhte Künstler einer creatio ex nihilo für fähig gehalten, für die als unabdingbare Voraussetzung galt, dass er sich möglichst frei von allen außerkünstlerischen Einflüssen hielt. Aus der Not einer zunehmend materialistischen und damit geist- und inspirationslosen Kultur wurde als Tugend das Ideal der Autonomie von Kunst geboren.

 
Das Autonomieideal hatte gleichsam als eine Ersatzinspirationsquelle zu fungieren. Als diese Kompensationsstrategie dann in der Hochzeit der Avantgardekunst durchschaubar wurde, hat etwa Harald Szeemann dem Zwang zur Selbstbefruchtung in der Kunst eine epochale Ausstellung mit dem schönen Titel Junggesellenmaschinen gewidmet, hat der Soziologe Niklas Luhmann den Gedanken von der Kunst als eines »autopoietischen« Systems entwickelt und auch der John Bock zugeschriebene Spruch »und ist das Mädel noch so lieb, Handbetrieb bleibt Handbetrieb« reagiert auf den gleichen Notstand und ironisiert nach postmoderner Manier das alte Autonomieideal der Kunst.

 
„Wer wollte da noch an die Kunstautonomie und ihre in der Moderne durch Selbstreferenz gespeiste Inspirationskraft weiter glauben. Und wer ist nicht inzwischen einer Kunst der ewigen Ironisierung dieses naiven Glaubens überdrüssig? Wie produktiv also die Idee einer Selbstzweckhaftigkeit der Kunst in der Vergangenheit auch gewesen sein mag, so ist sie doch inzwischen von einer Vision zu einer Illusion und damit unglaubwürdig geworden. Insofern bedarf die Kunst dringend einer »Finalisierung«, d.h. einer Zweckorientierung und ist nur durch den Bezug auf Fremdreferenzen fortsetzbar. Damit ist aber nicht der heute zu beobachtende Ausverkauf der Kunst an rein oder larviert kommerzielle, d.h. standortpolitische oder kulturpolitische Interessen gemeint. Vielmehr sieht das von mir vorgeschlagene Konzept der Finalisierung (3) vor, dass Künstlerinnen die Zwecksetzungen selbst bestimmt vornehmen und künstlerisch für bearbeitbar gehaltene Zwecke auffinden oder besser noch: erfinden.

 
Durch die heute nicht länger zu leugnende Unvermeidbarkeit, dass Kunst immer auch kunstexterne Zwecke erfüllt, ist die Kunst also als heteronom zu begreifen und kann ihren autonomen Status nicht länger behaupten. Aber sofern Künstlerinnen gleichwohl über die Art und Weise ihrer Zweckmäßigkeit weitest möglich selbst zu bestimmen suchen, kann Kunst gleichwohl auch noch Autonomie zukommen. Kunst, die sich nicht dem ökonomischen Verwertungszwang unterwerfen will, muss in diesem Sinne eine heautonome Struktur haben. Solcherart Selbstbestimmung ist die unabdingbare Voraussetzung für jede Kunstpraxis, die sich nicht nur als Vorstufe, Abart oder Überbleibsel der kommerziellen Hegemonialkultur versteht. »Es ist an der Zeit«, so Eduard Beaucamp, »am Projekt einer neuen, eigenständigen, weniger marktgefälligen Kunst zu arbeiten, die nicht länger billige Erwartungen und Klischees bedient und vor allem eine anachronistische Genie-Ästhetik verabschiedet. In unseren weltpolitischen und sozialen Umbruchsjahren muss die Kunst von Grund auf neu durchdacht, ja erfunden werden.« (faz 23.20.06)

 
Bei der Ausschau nach alternativen Praxisformen ist es ernüchternd, dass auch die in den Großstädten üppig wuchernden und sich subkulturell gebärdenden »Off-Szenen« von einem permanenten Wiederholungszwang beherrscht werden und keineswegs ein »Woanders« darstellen. Ganz im Gegenteil neigt die Szene aus einem gleichsam wild gewordenen Selbsterhaltungstrieb zur Überanpassung. Die meisten ihrer Protagonisten versuchen krampfhaft, den Konventionen der etablierten Kunst wie den Erfolgskriterien der herrschenden Ökonomie zu entsprechen, um endlich als dazugehörig anerkannt zu werden.

 
Vermeintlich schlau meint man, die Beteiligung an PR-Aktionen im Dienste von Wirtschaft und Politik zum eigenen Vorteil ausnutzen zu können. Tatsächlich aber kehrt sich diese Instrumentalisierungsabsicht um, und zumeist nur mühsam als künstlerisch kaschierte Leistungen müssen zu low- oder no-budget-Konditionen erbracht werden. Die in der Szene gepflegten Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen, die als Errungenschaften der Selbstorganisation ausgegeben werden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen indes weder als besonders partizipatorisch noch als paritätisch. Vielmehr ist ein informelles Machtspiel nach eher darwinistischen Prinzipien zu beobachten, das perfekt den neoliberalen Vorstellungen völliger Deregulierung entspricht.



Dass sich Künstlerinnen selbst an der andauernden Verwertung von Kunst beteiligen, ohne das Metier zu bereichern, ist nicht in erster Linie ein moralisches, sondern vor allem ein kulturelles Problem. Denn der Fundus künstlerischer Formen und Ideen wird dadurch ausgeplündert und aufgebraucht, sodass sich das Potenzial der Kunst als kulturelle Kraft verliert und schließlich ihre Fortsetzbarkeit in der bisherigen geistigen Tradition äußerst unwahrscheinlich wird. Die mit postmoderner Kettenbriefmentalität betriebene Verwertung der Kunst führt zu deren ultimativer Entwertung und ist alles andere als nachhaltig zu nennen.


Auf die Frage, was einem als Künstlerin denn sonst zu tun übrig bliebe, als sich in vermeintlicher Notwehr den falschen Verhältnissen irgendwie anzupassen, gibt es zwei mehr oder minder nahe liegende Vorschläge:


Für einen ersten Schritt zur Überwindung des Dilemmas genügte eigentlich schon der zwar nicht leicht, aber sofort ausführbare Entschluss, den Teufelskreis der künstlerisch ohnehin zum Scheitern verurteilten gegenseitigen Instrumentalisierungsversuche von Kunst und Kapital zu durchbrechen. Dazu ist nicht mehr und nicht weniger erforderlich, als auf die Zuwendung von Finanzmitteln und/oder von Anerkennung zu verzichten, wenn das von der dann nur pseudokünstlerisch zu erbringenden Erfüllung kunstfremder Absichten und Zwecke abhängig gemacht wird - Selbstbestimmung gibt es nun mal nur durch Selbstbeschränkung. (4)


Zur Verwirklichung dieses guten Vorsatzes kann die Einsicht verhelfen, dass es auch mit unfreier Kunst höchst unwahrscheinlich ist, sich aus finanziellen Nöten zu befreien. Des Weiteren hat auch die ersehnte Anerkennung nur einen sehr relativen Wert hat, da ungewiss bleibt, ob sie bloß der Servilität oder aber der künstlerischen Originalität gilt. Keine extrinsisch motivierte künstlerische Praxis auszuüben befördert zudem die unabdingbare individuelle Klärung, ob dem eigenen Kunstschaffen tatsächlich eine echte eigene Notwendigkeit zugrunde liegt. Andernfalls wäre es ratsamer, sich gleich einem leichteren und lukrativeren Geschäftsfeld als der Kunst zuzuwenden. Sich der Indienstnahme von Kunst für kunstfremde Interessen zu enthalten ist durchaus als eine Form des (indirekten) politischen Handelns in der Kunst anzusehen. Es ist allemal »ein viel stärkerer politischer Akt als das symbolische >Ausspielen< beim Verwenden politischer Inhalte innerhalb eines Kunstwerkes« (5) Etwas Politisches lediglich zum Inhalt, Thema oder Sujet von Kunst zu machen, wie es auf hohem Niveau etwa Hans Haacke tut, trägt nur dazu bei, »die formalistischen Voraussetzungen von Kunst zu verstärken«. (6) Statt gegen irgendeinen der unzähligen Polit-Skandale in Aktionismus zu verfallen, setzt »die politische Verantwortung... damit ein, dass der Künstler die Beschaffenheit von Kunst selbst hinterfragt«. (7)


Solche Fragen sollten sich einerseits auf die individuelle Sinnhaftigkeit des künstlerischen Tuns richten, andererseits auf dessen allgemeine gesellschaftliche Bedingungen. Ein zweiter Schritt, etwas Richtiges zu tun, bestünde dann als direkt politisch intendierte Kunstpraxis darin, an der Veränderung der institutionellen Verfassung des Kunstsystems mitzuwirken. Wenn größtmögliche Autonomie als die atmosphärisch und funktional wünschenswerte Qualität des Kunstsystems angesehen wird, ginge es darum, dass Künstlerinnen für ihre eigenen Organisationsformen sich selbst über Regeln verständigen, sie sich setzen und auch anzuwenden bereit sind.


Die experimentelle Erprobung solcher Regel-»Werke« wäre als ein konstitutives Moment künstlerischer Praxis zu begreifen und könnte eine Alternative zu den kommerzialisierten institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst schaffen. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe würde das Bestehen einer Off-Szene nicht nur glaubwürdig legitimieren, sondern auch die gerade in der Alternativszene vorherrschende Gesetzlosigkeit mit ihren negativen Folgen der Desorganisation und Desorientierung zu überwinden helfen. In Zeiten forcierten Konkurrenzverhaltens und reduzierter Kulturbudgets wäre dabei ein besonderes Augenmerk auf die demokratische Selbstorganisation von beispielhaften Auswahl- und Vergabeverfahren zu richten, da sie für die Beschaffenheit des Kunstsystems konsumtiv sind.


II. MÖGLICHKEIT
Alle individuellen künstlerischen Entscheidungen, und allemal die selbst bestimmten, werden einer nachträglichen Bewährungsprobe unterworfen, die aber auch vor jeder künstlerischen Praxis als Horizont immer schon präsent ist. Dabei handelt es sich um das Bewusstsein, dass Auswahlprozesse unvermeidlich sind, damit eine Arbeit die private Sphäre verlassen und zu einem öffentlichen Faktor im Kunstsystem werden kann.


Dieses hässliche Faktum, dass man auch und gerade in der Kunst nicht um Selektionen herumkommt, wird möglichst bagatellisiert, tabuisiert oder ironisiert. In der Regel lässt man dieses für schmutzig gehaltene Geschäft von irgendwelchen für konform gehaltenen Jurys erledigen und zu einem »Moderationsprozess« verklären. Unter den heutigen sozioökonomischen Bedingungen geht es dabei nicht mehr um die Verteilung von Anerkennung, sondern um die Verteilung von Existenzchancen, nämlich als Künstlerin weiterleben und -arbeiten zu können - oder eben nicht.


An anderer Stelle (8) findet sich eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Juryproblematik, weswegen ich mich hier in pragmatischer Absicht zuerst auf drei wesentliche Kritikpunkte beschränke und dann einige Verbesserungsvorschläge mache, die darauf zielen, die Selektionsbedingungen strukturell zu verändern:

1. Keine der JurorInnen muss sich für die gefällten Entscheidungen verantworten.
Werden Jurymitglieder nach einer Begründung für ihre Entscheidungen gefragt, so verweisen sie auf ihre vermeintliche Verschwiegenheitspflicht. Dabei gibt es meist gar nichts zu verschweigen, weil auch in den Auswahlsitzungen die Entscheidungen selten begründet werden. Die Standardausrede dafür lautet, dass man sich ja auf keinen Fall ein Urteil über Kunst erlauben möchte, da dies doch heute gar nicht mehr möglich sei. Erörterungen der künstlerischen Qualität werden mit Hinweisen darauf unterbunden, dass man solche Diskussionen für anmaßend halte und deshalb natürlich auch sich selbst dazu nicht berufen fühle; zudem sei man schließlich nicht in einem philosophischen Seminar.

 
2. Als entscheidendes Auswahlkriterium gilt der tatsächliche oder vermeintliche Erfolg einer Sache.
Im Zeichen der Ökonomisierung reduzieren sich die - gleich ob von Staat oder Wirtschaft - an die Kunst gerichteten Ansprüche, Interessen und Erwartungen auf die eine entscheidende Frage: Bringen sie materiell oder symbolisch einen messbaren (Geld- oder Geltungs-) Gewinn ein? Diesem ökonomistisch verkürzten Zweck- und Prestigedenken werden alle qualitativen Aspekte der Kunst untergeordnet oder angepasst. Die allseits verbreitete und devote Übernahme von solchen sachfremden Gesichtspunkten entzieht - mehr oder weniger unabhängig von den gerade agierenden Personen - ganz zwangsläufig jeglichen fachspezifischen Diskursen den Boden. Die Jurorinnen agieren letztlich wie Lobbyisten, und alle Ansätze des Argumentierens dienen anstelle einer möglichst sachgerechten wie unabhängigen und wirklich (ergebnis-) offenen Entscheidungsfindung und -begründung der nachträglichen Rationalisierung des vorab Gewussten und Gewollten.

 
3. Es wird zumeist das gefördert, was der Förderung wahrscheinlich am wenigsten bedarf.
Wenn der Grundsatz für vernünftig gehalten wird, dass , so werden Sinn und Zweck von Kunstförderung durch die praktizierten Auswahlverfahren geradezu pervertiert. Denn während es besonders angesichts knapper Mittel geboten wäre, die Qualitätsdiskussion über deren Vergabe auf solche Kunstentwürfe zu konzentrieren, »die bedroht sind und ohne eine solche zusätzliche Förderung untergehen würden« (9), ist eben der feste Vorsatz verbreitet, möglichst das zu finden und zu fördern, was bereits »erfolgreich« ist oder zu werden verspricht. Da sich indes genau diese Kunst am ehesten über den Verkauf finanziert, degradieren sich Jurys zu Zulieferungsagenturen für den Markt. Eine solche - vielfach mit öffentlichen Mitteln betriebene - Kunstförderung ist dann tatsächlich primär Wirtschaftsförderung.

 
Diese relativ deprimierende Diagnose erzwingt geradezu die Frage nach den Möglichkeiten einer grundsätzlichen Veränderung der überkommenen Jurierungsrituale: Wie wären Auswahlprozesse zu organisieren, in denen auch eine tatsächlich förderungsbedürftige Kunst sich als förderungswürdig erweisen könnte? Oder anders gefragt: Wie ist die notorische Benachteiligung bzw. Unterdrückung tatsächlich innovativer, also alternativer, radikaler und konsequenter künstlerischer Arbeitsansätze zu verringern, sodass diese für die kulturelle Evolution gleichsam unverzichtbaren »Mutanten« nicht eliminiert werden?

 
Zur Rechtfertigung der skandalösen Jurierungspraktiken verweist man gerne auf den im Unterschied zum Kuratorenmodell immerhin demokratischen Charakter der gängigen Jurierungspraxis. Damit wird nicht nur betont, dass jeder Urteilsspruch natürlich auf einem Mehrheitsvotum basiert, sondern zugleich wird auch das Entscheidungskriterium »Erfolg« als durch und durch demokratisch dargestellt. Indes ist ein allein auf das Mehrheitsprinzip und damit auf den Mainstream fixiertes Demokratieverständnis allemal in einem hochspezialisierten gesellschaftlichen Teilbereich wie der Kunst primitiv. Statt der einmaligen, einsamen und endgültigen mehrheitlichen Willensentscheidung müsste die zuvor in den gesellschaftlichen Gruppen und Subsystemen zu organisierende Willensbildung wieder ins Zentrum der Demokratisierungsversuche rücken.

 
Dabei sind alle Anstrengungen darauf zu richten, dass die Willensbildung in allen Phasen und in jeder Hinsicht sich im erweiterten Verständnis höchst demokratisch vollziehen kann und das Recht sowie das Vermögen aller Beteiligten zur Selbstbestimmung stärkt. Erst unter dieser Voraussetzung wird es wahrscheinlicher, dass die in Auswahlverfahren fachlich geforderte Unabhängigkeit und moralisch gebotene Verantwortung auch tatsächlich aufgebracht wird.


Doch nicht nur für die Steigerung der Professionalität und Seriosität, sondern insbesondere für die Zurechenbarkeit individueller Verantwortung, ohne die jede Selektionsentscheidung eine Farce wäre, ist Selbstbestimmung unabdingbar. »Das Grundgesetz verwendet denn auch die Begriffe Verantwortung und Entscheidungsfreiheit synonym...«, während »... sich Politiker und Gesetzgeber angewöhnt haben, von Eigenverantwortung anderer zu reden, und damit nicht selbst bestimmte Freiheit, sondern im Gegenteil die Erfüllung fremd gesetzter Pflichten meinen« (10), so der Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio.


Wie also sind Auswahlverfahren derart als demokratische Institute der freien, offenen Willensbildung zu organisieren, damit nicht nur ihre Qualität und Legitimität, sondern auch ihre Akzeptanz und Glaubwürdigkeit erhöht wird?


1. Auswahlverfahren sollten nicht bloß auf das Ergebnis fixiert sein, sondern die Art und Weise wie sie praktiziert werden, wäre als mindestens ebenso wichtig anzusehen und ein adäquates Maß an Zeit und Geld hierfür zu investieren. So sollte etwa die bezweckte Förderung sich nicht erst als Ergebnis des abgeschlossenen Auswahlverfahrens für verschwindend wenige der Bewerberinnen ausschließlich in Form finanzieller Zuwendungen realisieren. Vielmehr wäre anzustreben, dass sowohl materiell (etwa durch angemessene Erstattung der aufgewendeten Bewerbungskosten) als auch ideell (etwa durch intensive Diskussion der eingereichten Arbeitsproben) auch im Auswahlprozess selbst möglichst viele bereits profitieren können, statt nach dem Prinzip »the winner takes it all« zu verfahren.


2. Die Annahme, dass aus der unmittelbaren Anschauung (im Minutentakt) gewonnene und als Privatperson gefällte ästhtische Urteile als Entscheidungsgrundlage ausreichend sind und keiner weiteren intellektuellen Befragung und Begründung bedürfen, sollte aufgegeben werden. Stattdessen käme es darauf an, für die jeweilige Ausschreibung die spezifische Prozedur einer öffentlichen und argumentativen Verhandlung der auszuwählenden künstlerischen Projekte zu konzipieren und zu erproben.


3. Die Teilnehmerinnen an Auswahlverfahren verfügen über wenige Informationen und keinerlei Rechte, was ihnen einen schlechteren Status als jedem Lotterieteilnehmer gibt. Dies wäre durch den transparenten Charakter der Ausschreibungsbedingungen und des Entscheidungsverfahrens zu verbessern. Ausschreibungen sollten nicht nur in Bezug auf die Höhe der finanziellen Zuwendung, sondern vor allem hinsichtlich des Auswahlmodus und der inhaltlichen Zielsetzung untereinander um die Beteiligung an ihnen konkurrieren. Dazu gehörte auch eine Supervision des Verlaufs der selbst gesteuerten Selektionsprozesse.


4. Voraussetzung jeglicher Verbesserung ist die Verwirklichung folgender zentraler Forderung: Während die Künstlerinnen wie ihre Werke bislang lediglich als Objekte in den Auswahlverfahren präsent sind, sollte ihnen ermöglicht werden, auch als Subjekte der Beurteilung zu fungieren. Dazu sollte ihnen im Verfahren Gehör gewährt werden, sodass sie sich etwa zu den Kriterien äußern können, die sie auf sich und ihre Arbeit angewendet sehen möchten. Darüber hinaus wäre ihnen auch die Gelegenheit zu geben, auf kritische Einwände zu reagieren.


Vor allem aber wäre es unerlässlich, dass auch die Bewerberinnen ihren Sachverstand in das Verfahren einbringen und über die Auswahl selbst mitentscheiden können. Die dabei möglichen Interessenkonflikte und das Problem Richter in eigener Sache zu sein, lassen sich zweifellos durch ein geeignetes intelligentes Setting (eine Art Prozessordnung) neutralisieren und durch die Vernunft der Beteiligten minimieren. Um den Entscheidungsprozess sowie das Ergebnis zu optimieren, sollte zusätzlich eine bestimmte Anzahl von Fachleuten, die sich für das jeweilige Förderziel besonders qualifiziert und engagiert haben, ebenfalls mitbestimmen können. Anstelle der bisherigen alleinigen Entscheidungsgewalt einer nach Proporz- und/oder Opportunitätsgesichtspunkten zusammengesetzten Jury, sollten die ausgewiesenen Expertinnen vor allem auch eine fundierende und moderierende Funktion bei der Auseinandersetzung mit den eingereichten Projekten wahrnehmen.
Die allen derartigen Überlegungen zugrunde liegende vermeintlich utopische Zielvorstellung besteht darin, im jeweiligen Verfahren die persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein derartiges Maß an Wahrhaftigkeit zu schaffen, dass Selektionsentscheidungen möglichst auf der Basis von Prozessen der Selbstauswahl getroffen werden können. Diese ist letztlich das einzig legitime, wirklich akzeptable und wahrscheinlich auch verlässlichste Auswahlverfahren, das so weit als möglich berücksichtigt werden sollte, wenn die Konzeption und Realisierung selbst bestimmter Auswahlverfahren zum Kernbestandteil der künstlerischen Praxis selbst erhoben würde. Um solche künstlerischen Forschungsvorhaben zu fördern, müssten die Verfügungsberechtigten der Kunstpreise, -Stipendien und -Wettbewerbe lediglich andere Prioritäten setzen; die erforderlichen finanziellen Mittel besitzen sie ja bereits.



Anmerkungen:
1 https://www.artinvestzoo6.de/investitionsmarkt-kunst.php

 
2 Vgl. etwa Lingner, Michael: GEWINNWARNUNG. Über den Artist Pension Trust, Texte zur Kunst, Heft Nr. 61, 16.Jg., März 2oo6.
3 Siehe: Lingner, Michael / Walther, Rainer: Paradoxien künstlerischer Praxis. Die Aufhebung der Autonomie des Ästhetischen durch die Finalisierung der Kunst, Kunstforum International, 76/1984.
4 Gegen ein Authentizitätsideal, das Individualisierung als Optionenvielfalt begreift, stellt Rahel Jaeggi handlungstheoretisch fest: »Man ist überhaupt nur jemand, indem man etwas Bestimmtes und damit anderes nicht tut.« C. Geyer: Beim Tun und Machen. Über die neue Entschlossenheit, Persönlichkeit zu denken. In: FAZ 09.05.2007
5 Kosuth, Joseph: Lehrendes Lernen (ein Gespräch über das
WieWarum<). In ders.: A Room with 23 Qualities. Hamburg/Stuttgart 1992. S.10
6 Kosuth, a.a.O. S.11
7 Kosuth, a.a.O. S.11
8 Lingner, Michael: Analyse der Preisgabe künstlerischer Autonomie und eine Perspektive ihrer Wiedergewinnung. Ein demokratisiertes Jury-Modell
Elm, Ralf (Hg.): »Kunst im Abseits?«. Schriftenreihe der Universität Dortmund, Projekt-Verlag, 2004, Zur Verantwortbarkeit von Eingriffen in die Kulturelle Evolution am Beispiel der Kunstförderung.
9 Groys, Boris: Das Werk ist Aussage. Die Rettung der Kunst liegt im Diskurs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.8.2002. Groys bezieht
sich dabei auf Artikel von E. Beaucamp zur Förderpolitik der Bundeskulturstiftung in der FAZ vom 22. und 23.7.2002.
10 di Fabio, Udo: Ein großes Wort. Verantwortung als Verfassungsprinzip. In: FAZ vom 2.5.02



Michael Lingner (1950-2020) war Medientheoretiker, Künstler und Professor für Kunst-Wissenschaften an der Hochschule für bildende Künste Hamburg.
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