Kultur, Geschichte & Management

Zu Beginn seiner allerersten Veröffentlichung äußerte Immanuel Kant – man schrieb das Jahr 1746 – die Bitte, „daß diejenige Freiheit, die ich mir herausnehme, großen Männern zu widersprechen, mir für kein Verbrechen werde ausgelegt werden.“

Seine Arbeit richtete sich gegen etliche Wissenschaftler und Philosophen, von denen Gottfried Wilhelm Leibniz der prominenteste war, und es scheint, dass sich angesichts einer solchen Gegnerschaft auch ein selbstbewusster junger Mann Mut zusprechen musste.

 

Er hoffte auf etwas, worauf wohl jeder Anspruch erheben darf: Darauf, dass seine Argumentation unvoreingenommen geprüft werde. Konnte er sich dessen sicher sein? Schließlich kannte auch der jugendliche Kant „Herren, die gerne für Schiedsrichter in der Gelehrsamkeit angesehen sein wollten“, aber bereit waren, „von einem Buch zu urtheilen, ohne es gelesen zu haben.“

 

Ich kenne jede Menge Leute, die Theorien oder Bücher ablehnen, in die sie keinen Blick warfen und für deren Thematik sie sich auch nicht im Geringsten interessieren – sie lehnen sie einfach deshalb ab, weil sie ihnen irgendwie komisch vorkommen. Oder abweichend. Und diejenigen, die professionell damit umgehen? Für die ist ein gewisser Opportunismus gelegentlich überlebensnotwendig. Wenn der Professor über Karl den Großen forscht, werden weder sein Assistent noch die Examenskandidaten der These beipflichten, dieser habe niemals existiert.

 

Bei vielen Leuten ist es aber nur Wichtigtuerei: sie schlagen sich auf die Seite der etablierten Wissenschaft, weil das so schön seriös aussieht und sie sich selbst dabei auf der sicheren Seite wähnen. Um das zu belegen, werde ich etwas später aus der Zuschrift eines Herrn zitieren, die vor Anmaßung nur so strotzt und in eine moralische Abqualifizierung mündet, die den Leser schon erschrecken kann. Oder doch sollte.

 

KdG Nachruf COVERWie er in dem Vorwort zu diesem Buch verrät, erwartete Heribert Illig einen fairen Umgang mit seinen Thesen, als er sich vor etwas mehr als drei Jahrzehnten daran machte, unser Bild vom frühen Mittelalter zu korrigieren. „In Unkenntnis wissenschaftlicher Gepflogenheiten“, so heißt es gleich auf der ersten Seite seines neuen, wahrscheinlich letzten Buches zum Thema, „glaubte ich, es gäbe so etwas wie eine kritische Masse an ‚Beweisen‘, also an handfesten Indizien, die irgendwann die Fachgelehrten einfach überzeugt. Doch es kam anders.“ Hört man aus diesen Worten Bitterkeit? Oder wundert sich der Autor nur darüber, dass ein Thema, mit dem sich doch sonst kaum ein Mensch beschäftigt, derart hohe Wellen schlägt? Denn wen interessiert das frühe Mittelalter? Die meisten sind doch schon froh, wenn sie wissen, worum es im Investiturstreit ging, wer Barbarossa war und wie sie Gotik von Romanik unterscheiden können. Allerdings, dies alles ist erst einige hundert Jahre später von Belang.

 

Hatte Illig mit den Angriffen gerechnet, die dann tatsächlich auf ihn verübt wurden – auf ihn als Person? „Verschwörungstheoretiker“ war noch das netteste, ein zwar etwas allgemeiner und dazu völlig unbegründeter, sich aber noch halbwegs – halbwegs! – im Rahmen haltender Vorwurf; bei weitem schlimmer war es, dass er von einem Journalisten – einem gewissen Richard Herzinger – in einem wirren Artikel in der „Zeit“ mit Holocaust-Leugnern in Verbindung gebracht wurde. Wie konnte es sein, dass ein Buch über Karl den Großen derart viel Wut provozierte? Hat dieser Autor, also Illig, tatsächlich herumphantasiert? Besitzt seine Argumentation wirklich eine Ähnlichkeit mit der von Holocaust-Leugnern?

 

Seit dreißig Jahren also vertritt Illig seine These und versucht mit diesem Buch endlich ein Fazit vorzulegen. Anfang oder Mitte der Neunziger sah er sich mit seiner Behauptung, Karl der Große habe niemals existiert, stark beachtet und fand sich sogar in eine Talkshow eingeladen. Dort musste er sich außer von dem Moderator noch von einem Fernsehpastor ins Gebet nehmen lassen, der kritisch die Stirn runzelte und davon sprach, dass es doch Quellen geben müsse. Ja, die Quellen gibt es wohl tatsächlich, aber hat dieser Theologe niemals gelernt, wozu Quellenkritik nützlich sein kann? Hatte Pastor Fliege nicht verstanden, dass eben darauf die Kritik hinauslief: Es gab viele Papiere und Druckwerke, aber einerseits war das dort berichtete Geschehen wenig glaubwürdig, andererseits sah es sich nicht ergänzt oder bestätigt durch archäologische Funde, durch Ruinen oder Artefakte aller Art.

 

KdG Das erfundene MIttelalter COVERIn „Das erfundene Mittelalter“ versuchte der Autor zunächst zu zeigen, wie wenig glaubwürdig die Überlieferung war und ist – also die Überhöhung Karls zum Vater Europas, zu dem genialen Organisator seines Reichs, zum Förderer der Wissenschaften. Sodann beschäftigte sich das Buch mit der Aachener Pfalzkapelle – heute der Aachener Dom –, denn diese archaisch anmutende, tatsächlich sehr beeindruckende Kirche sollte zu Lebzeiten Karls errichtet worden sein, mehr noch, der Name des Kaisers wird mit ihrem Bau unmittelbar in Verbindung gebracht. Heute schreibt Illig über sein erstes Buch: „Vor 28 Jahren habe ich Aachen den Fehdehandschuh hingeworfen, indem ich auf zahllose Ungereimtheiten, Anachronismen und sonstige Widersprüche am Bau der Aachener Pfalzkapelle hingewiesen habe.“ Beliebt gemacht hat er sich damit nicht.

 

Seine Argumentation war also von Anfang an viel komplexer, als sie von seinen Kritikern dargestellt wurde. Es ging keineswegs einfach nur darum, „positivistisch“ fehlende Ruinen oder andere Fundstücke einzuklagen, wie es der angesprochene Artikel in der „Zeit“ und zahllose andere Angriffe behaupten. Vielmehr hat Illig gezeigt, dass die Baugeschichte nicht konsistent ist, wenn die Pfalzkapelle auf das frühe 9. Jahrhundert datiert wird. In dieser Zeit kann der Bau gar nicht errichtet worden sein. Sein erstes Buch zum Thema – also „Das erfundene Mittelalter“ – führt insgesamt 24 Gründe auf, warum dieses Bauwerk zu früh, sogar viel zu früh war: technische oder architektonische Gründe. Das war nicht die Argumentation eines Verschwörungstheoretikers, und es war auch sonst in keiner Weise irrational.

 

In dem aktuellen Buch nun fügt Illig seiner ohnehin dicht gewobenen Argumentation zum Alter der Pfalzkapelle einen weiteren Strang hinzu und zeigt, dass die Verklammerung der Gewölbe mittels Eisen, wie sie in der Kirche beobachtet werden kann, unmöglich um das Jahr 800 herum hätte ausgeführt werden können. Worauf er sich nach wie vor mit Recht beruft, ist eine „voranschreitende Bau-Evolution“, ist also die innere Logik einer allmählichen Verbesserung verschiedener Techniken. Dabei geht es nicht allein um die Grundidee – in diesem Fall um den Gedanken, die Steine mit einer Eisenarmierung miteinander zu verklammern –, sondern mehr noch um die Qualität des Eisens. Hätten die Baumeister eines Karl des Großen überhaupt auf Eisen in ausreichender Qualität zurückgreifen können? Und gab es bereits damals die Mühlen, mit deren wassergetriebenen Hämmern derartiges Material bearbeitet werden konnte?

 

Illig ist ein sehr akkurater Autor. In diesem Buch findet sich die sauber recherchierte, penibel mit Literaturhinweisen belegte und mit allerlei Bildern illustrierte Geschichte des Gewölbebaus und der Eisenarmierung. Es wird gezeigt, wie sich die Eisenbearbeitung allmählich entwickelte, wo die Schwierigkeiten liegen, wenn die Eisen in den dicken Mauern uralter Kirchen aufgefunden werden sollen und warum alle diese Techniken um das Jahr 800, als ein Karl der Große Süddeutschland beherrscht haben soll, mit absoluter Sicherheit unbekannt gewesen sind. Derartige Gewölbe hätten also unmöglich im Jahr 800 errichtet werden können: darauf kommt es an. Was also sind „Quellen“ wert, in denen etwas Unmögliches berichtet wird? Schließlich gibt es da noch andere Fragen, die zum Beispiel den Hauptstadtstatus von Aachen betreffen. Leider findet sich nichts, absolut gar nichts in dieser Stadt, das auf das frühe neunte Jahrhundert deutet. Auch wurden Aachen erst 1166 die Stadtrechte verliehen.

 

„Es ist befriedigend“, schreibt Illig, „nach 30 Jahren einen Gedanken vollständig beweisen zu können.“ Aber es ist zu befürchten, dass dieser Beweis weder zur Kenntnis genommen noch gar seriös diskutiert werden wird.

Illig geht es in seinem Buch nicht allein um die Vollendung der Beweisführung, sondern auch um die Chronologie der Angriffe auf ihn und seine Theorie, teilweise sogar um die taggenaue Dokumentation seiner Auseinandersetzungen. Vieles davon ist erschreckend, denn nur zu schnell gingen seine Kritiker zu persönlichen Angriffen über, ohne sich um eine sachliche Auseinandersetzung zu bemühen.

 

KdG Thron Aachen

Karlsthron im Aachener Dom. Foto links: Berthold Werner. Foto rechts: Torsten Maue. CC BY-SA 3.0/2.0

 

Noch etwas ist wichtig: Warum regen sich seine Kritiker so auf – wohlgemerkt, nicht die universitären Erforscher Karls des Großen. Dass diese sich angegriffen fühlen, kann ich gut verstehen, auch wenn ihre Überheblichkeit wenig angenehm berührt. Aber warum Herr Herzinger aus der „Zeit“? Warum regen sich Menschen auf, die sich niemals mit dem frühen Mittelalter beschäftigt haben? Warum scheint ihnen die Elimination Karls aus der Geschichte so ungeheuer wichtig? Was wird dann anders?

 

In einer anmaßenden Weise äußerte sich ein mir unbekannter Leserbriefautor auf einen früheren Artikel über Illig. Er nimmt Herzingers Argumentation auf, wenn er mit „anderweitige Vorstellungen“ auf den Nationalsozialismus anspielt: „Ob Karl der Große gelebt hat oder nicht, ist für den Normalbürger im Grunde völlig belanglos – niemandes Leben ändert sich deswegen auch nur im Geringsten. Deshalb führt die Frage, wem solche pseudowissenschaftlichen Pamphlete eigentlich nützen, tief in den Morast von Paranoia und moralischer Verwahrlosung. Sie nützen nämlich nur denjenigen, die auch anderweitige Vorstellungen von großen Verschwörungen legitimieren müssen.“

 

Die Logik dieser Worte ist schon atemberaubend. Warum ein „deshalb“? Handelt es sich um eine Schlussfolgerung aus der behaupteten Belanglosigkeit einer Theorie? Und: Wenn das alles komplett irrelevant ist und sich keines Menschen Leben dadurch ändert: Warum sollten wir uns überhaupt noch mit Geschichte beschäftigen? Ließe sich nicht dasselbe über fast alles sagen, dass vor mehr als – nun, sagen wir: einhundert Jahren geschehen ist? Endlich: Lese ich richtig? Unterstellt dieser Kommentator einem ihm persönlich unbekannten Menschen tatsächlich Paranoia? Spricht er wirklich von „moralischer Verkommenheit“? Wie kommt er zu derart maßlosen Beschuldigungen, die doch massive Beleidigungen darstellen? (Warum lässt eine Internetseite, die von den Kommentaren zu ihren Artikeln sagt, diese würden „moderiert“, dergleichen zu?) Für uns sind diese indiskutablen Bemerkungen interessant, weil sie veranschaulichen, wie auf „Das dunkle Mittelalter“ reagiert wurde.

 

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Illig möchte 297 Jahre streichen, und wenn sich diese neue Chronologie durchsetzen sollte (keine Sorge, das wird sie ganz gewiss nicht!), dann lebten wir zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Das wäre ziemlich gewöhnungsbedürftig, auch wenn unser tägliches Leben das gleiche bliebe. Aber es gibt ja noch andere als alltägliche Interessen, es gibt das Bedürfnis nach Orientierung, und offensichtlich gehört auch der Blick in eine sehr ferne Vergangenheit dazu. Eingangs seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ schreibt Egon Friedell unter dem witzigen Titel „Der Wille zur Schachtel“ über den Menschen und seine Leidenschaft, sich zu orientieren: „Seine stärkste Sehnsucht, sein ewiger Traum ist: Chronologie in die Welt zu bringen.“ Vielleicht ist „stärkste Sehnsucht“ ein wenig übertrieben, aber Chronologie ist schon wichtig, auch wenn sich unser Leben dadurch nicht ändert.

 

Wenn wir drei Jahrhunderte streichen, ist unser Blick auf den Übergang von der Antike auf das frühe Mittelalter ein gänzlich anderer, denn plötzlich verstehen wir, warum das Zeitalter der Ottonen (der sehr bedeutenden Könige aus dem 10. und 11. Jahrhundert) in mancher Hinsicht noch an das Reich der Römer erinnert. Jetzt sind es ja auch nicht mehr als vier Jahrhunderte, die zwischen dem Untergang des Römischen Reiches (476) und der Zeit Ottos des Großen (912–973) liegen, sondern drei Jahrhunderte weniger, und wir verstehen plötzlich, warum so vieles an dieser Zeit archaisch anmutet. Man denke nur an die gewaltigen Kathedralen und Dome! Wir können jetzt auch nachvollziehen, warum sich manches gelehrte Wissen über diese Zeit erhalten konnte – es liegen ja nicht mehr als vier „dunkle“ Jahrhunderte mit ihren rauschenden Buchenwäldern zwischen dem alten Rom und den ersten Anfängen eines Deutschen Reiches, sondern nur gute hundertfünfzig. Diese Zeit lässt sich viel leichter überbrücken.


Heribert Illig: Nachruf für Kaiser Karl. Aachens Pfalz – Eisenarmierung – Chronik der Mittelalterdebatte

Mantis Verlag 2024

263 Seiten, 53 Abb.

ISBN: 978-3928852616

Weitere Informationen (Verlag) 

 

Heribert Illig: Das erfundene Mittelalter. Hat Karl der Große je gelebt?

Ullstein Verlag 2002

464 Seiten

ISBN: 978-3548364292

 

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