Film
The Unknown Known

Erschreckend wie faszinierend: Errol Morris’ biographischer Dokumentarfilm über den früheren amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.
Hat der Irak Massenvernichtungswaffen? Das war 2002 die alles entscheidende Frage. Noch heute ist der 81jährige ehemalige Politiker der Bush-Ära ein Meister der Verneblungstaktik. Seine Philosophie entlarvt sich auf der Leinwand schon bald als schier unerträgliche pseudointellektuelle Wortakrobatik. Doch jene rhetorischen Ablenkungsmanöver machten Geschichte und sind Kernpunkt des Interviews.

Sprache setzt Rumsfeld nicht nur ein um Andere zu manipulieren oder auszutricksen, sondern vor allem um sich selbst zu betrügen. Er scheint durchdrungen von der Gewissheit, dass die richtigen Definitionen Geschehenes ungeschehen machen können. Wie ein Jurist mit Ambitionen zum Amateurzauberer wirbelt er zwischen den Seiten der Diktionäre hin und her, als wäre alles nur eine Frage der korrekten Terminologie, und ihm gelänge so in letzter Minute noch eine Lösung der internationalen Konflikte herbeizureden. Der Zuschauer fühlt sich erinnert an George Orwells dystopischen Roman „1984” und das Phänomen des „Doppeldenks”: Es ist die Fähigkeit zwei widersprüchliche Überzeugungen zu vertreten, absichtlich Lügen zu erzählen, aber aufrichtig an sie zu glauben. Unbequeme Tatsachen völlig zu verdrängen, doch falls erforderlich, sie wieder aus der Vergessenheit hervorzukramen. Rumsfeld versteckt nicht die Wahrheit, er ist sicher nichts verstecken zu müssen. Sein Blick strahlt Selbstzufriedenheit aus, er hält sich für unendlich smart, verliebt in seine eigenen Aphorismen und moralische Überlegenheit. Es ist zum Fürchten.

Errol Morris gehört zu den beeindruckendsten Künstlern der Gegenwart. Die renommierte britische Zeitung ‚The Guardian’, sonst eher knauserig mit Lob, erklärte ihn zum „besten investigativen Filmemacher der Welt” und zählte ihn 2003 zu den 40 wichtigsten lebenden Regisseuren. Der legendäre, im Vorjahr verstorbene Kritiker Roger Ebert bewunderte ihn als Magier, verglich sein Talent mit dem von Fellini und Hitchcock. Er setzte Morris „Gates of Heaven”(1978) auf seine Liste der besten zehn Filme aller Zeiten. „The Fog of War”(2003) erhielt neben vielen anderen Auszeichnungen 2004 den Oscar als besten Dokumentarfilm. Eher ungewöhnlich in der Branche, Morris ist auch ein brillanter Werbefilmer, nach eigenen Worten hat er an die 1000 TV Commercials gedreht. Die erste Einstellung zu „Unknown Known”: eine scheinbar endlose schimmernde Wasseroberfläche. Ausdruck des Unbekannten. Was geht in den Köpfen der Menschen vor? Dieses Geheimnis hat Errol Morris immer wieder zu ergründen versucht, ob bei der ehemaligen Schönheitskönigin, die aus obsessiver Liebe einen Mormonenpriester kidnappt und sexuell missbraucht („Tabloid”) oder bei Robert McNamara, US-Secretary of Defense während des Vietnamkrieges. Im Gegensatz zu einem Michael Moore, der sich selbst zelebriert, ist dies keine Abrechnung mit den Protagonisten, sondern die Chance einer Geschichtsschreibung von Innen heraus. Es ist das besondere Charisma des Künstlers, dass die Menschen ihm vertrauen, spüren, er wird sie weder benutzen, denunzieren noch als Karikatur lächerlich machen, sondern mit ihnen gemeinsam jene emotional aufwendige Spurensuche durch ihre Erinnerungen antreten. Und doch bezieht Morris Position, Donald Rumsfeld wusste durchaus, dass er einen vehementen Gegner des Irak-Krieges vor sich hatte. Die beiden sind Kontrahenten, und als solche stehen sie sich gegenüber: gleichberechtigt, mit gewissem Respekt, aber keinesfalls mit Sympathie füreinander. Jedes Projekt von Morris ist wie ein Forschungsauftrag in eigener Sache, er nimmt das Ergebnis nie vorweg, die Resultate sind unerwartet, erschütternd, sprengen manchmal die Dimensionen des Erträglichen wie „Standard Operating Procedure” (2008). Ein atemberaubender, grandioser Film. Morris rekonstruierte den Folterskandal im Gefängnis von Abu Ghraib. Die Fotos von lachenden US-Militärpolizisten, die nackte irakische Gefangene systematisch erniedrigen, wurden zum Symbol des moralischen Bankrotts der USA. Morris befragt einige der Täter, darunter auch die berüchtigte Militärpolizistin Lynndie England. Die Statements von Zeugen und Tätern werden mit Interrotron-Technik aufgenommen, so dass der Zuschauer dem Interviewten direkt in die Augen blickt. Der Regisseur ergänzt die Erlebnisberichte durch Auszüge der Briefe, die die Reservistin Sabrina Harman an ihre Lebensgefährtin schrieb. Die Folterszenen lässt er nachstellen, ‚Reenactment’ nennt sich die authentische Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse.

In „The Unknown Known” vermissen manche Kritiker eben jene Sensationen, belastendes Material um den verhassten Politiker als Dämon zu entlarven nicht nur als Verantwortlichen für den Irak Krieg. Sie wollen, dass er hart ins Kreuzverhör genommen wird, er soll Reue zeigen wie einst Robert McNamara. Das tut er nicht, im Gegenteil. „Meine Frau Julia vergleicht McNamara mit dem Fliegenden Holländer, der durch die Welt reist und nach Erlösung sucht, die ihm nie gewährt wird,” sagt Morris in einem Interview, Rumsfeld dagegen sei die Grinsekatze aus „Alice in the Wonderland. „Am Ende bleibt nur das Lächeln übrig.” Der Zuschauer wird nicht allein mit dem Protagonisten konfrontiert, sondern auch mit sich selbst. Wir quengeln zwar, wenn die Bösewichter auf der Leinwand oder im Fernsehen zu klischeehaft geraten, doch eigentlich ist es genau das, was wir wollen. Sie sollen unseren Vorstellungen des Schlechten entsprechen. Es ist das vielbeschriebene Phänomen der „Banalität des Bösen”. Hannah Arendt erkannte es, aber wir wollen es noch immer nicht akzeptieren. Rumsfeld ist ein typischer Technokrat des 21. Jahrhunderts, wenn mal nicht Politiker dann erfolgreicher Geschäftsmann, Reue oder Selbstzweifel entsprechen weder dem Zeitgeist noch seinem Naturell. Die Karriere ist ein fesselnder Crashkurs in amerikanischer Geschichte. Morris geht es um mehr als diesen Protagonisten, er will die Strukturen analysieren, Zusammenhänge herstellen, auch die eigene Rolle untersuchen. Der Film entwickelt sich zu einem ungewöhnlichen Katz-und Maus-Spiel: Argumente und Gegenargumente, Ausflüchte und Beweise. In den 50 Jahren seiner politischen Laufbahn schrieb Donald Rumsfeld Zehntausende von Memos, „Schneeflocken” nennt der 81jährige sie lyrisch liebevoll, 20 000 waren es allein während der Präsidentschaft von Bush. Wozu? Sind es einfach nur Anweisungen für Kollegen und Mitarbeiter? Ernsthafte Versuche verschiedene Strategien, Entscheidungen und Ideologien zu entschlüsseln? Oder notierte er sie, weil er festlegen wollte, wie er in der Zukunft wahrgenommen wird? Die Neugier des Dokumentarfilmers war geweckt, der ehemalige Verteidigungsminister gewährte ihm Zugang zu seinem Archiv, die Memos wurden Grundlage für das Film-Porträt. Sie geben dem Regisseur die Möglichkeit, die politischen Realitäten aus Rumsfelds Sicht zu sehen.

„The Unknown Known” ist Teil eines berühmten Zitats. Rumsfeld sagt diesen Satz bei einer Pressekonferenz vor der Irak-Invasion. „Aber kaum jemand weiß,” so Morris, „dass die Worte ‚das bekannte Bekannte, bekannte Unbekannte und unbekannte Bekannte’ in einem Memo mit dem Titel „Mit P. diskutieren” stehen. Es trägt das Datum 21. Mai 2001, also Monate vor dem 11. September. In diesem Memo steht auch der Satz: „Die Abwesenheit von Beweisen ist nicht der Beweis von Abwesenheit.” Als Rumsfeld am 12. Februar” 2002 die berühmten „Bekannten” und „Unbekannten” abspulte, antwortete er damit auf eine Frage von NBC-Reporter Jim Miklaszewski über die Verbindung zwischen Saddam Hussein und Terroristengruppen. Statt Miklaszewskis Frage zu beantworten, lenkte er sie in eine Art philosophischer Ausflucht ab: „Sehen Sie, es gibt Dinge, die wir wissen, die Dinge, die wir nicht wissen, und die Dinge, von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.” Dann unterbricht ihn ein anderer Reporter und sagt: „Aber er hat Sie gar nichts gefragt, das man nicht wissen kann. Er hat gefragt, ob Ihnen Beweise dafür bekannt sind, dass der Irak Massenvernichtungswaffen an Terroristen geliefert hat oder zu liefern bereit war.” Zu dem Angriff auf Pearl Harbor war es nach Ansicht Rumsfelds gekommen aus einem „Mangel an Vorstellungskraft”. Die Geheimdienste hatten damals versagt. Dieser Gedanke wurde für ihn zur Obsession und führte zu seiner aggressiven Verteidigungspolitik: „Wer den Frieden will, muss sich auf den Krieg vorbereiten.” Als Vorwand, den Krieg zu beginnen, braucht man keine Gründe wie Ölreserven, Weltherrschaftsambitionen, es genügte schon das Schlimmste zu befürchten und so zu tun, also ob es wirklich passieren wird. „The Fog of War” stellt die Frage: Bedauert McNamara aufrichtig? Und macht dieses Bedauern angesichts der Millionen von Toten überhaupt einen Unterschied. Bei Rumsfeld gibt es keinerlei Zweifel. Von Bedauern keine Spur. Fehler sind seiner Ansicht nach Kollateralschäden, unvermeidbar: „Stuff happens”.

33 Stunden hat der Regisseur den ehemaligen Verteidigungsminister interviewt. Nur einem Errol Morris gelingt es, einen Dokumentarfilm, der sich um Memos dreht, so spannend wie einen Thriller zu erzählen. Er hat das untrügerische Gespür eines brillanten Meisterdetektivs, die Phantasie eines Malers und Sinn für das Absurde. Selbst Statistiken und Diagramme werden durch Raketen und Explosionen dramatisiert. Die Musik für die Grinsekatze stammt von Danny Elfman, der auch den Soundtrack für Tim Burtons „Alice in the Wonderland” komponierte. Die Wahrheit, sie bleibt zwischen all den Lügen scheinbar unauffindbar, Rumsfeld lässt nur selten von seiner Verschleierungstaktik, er leugnet und leugnet und leugnet. Am Ende entlarvt er sich damit selbst.

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Originaltitel: The Unknown Known
Regie/Drehbuch: Errol Morris
Mit: Donald Rumsfeld, Errol Morris, Kenn Medeiros
Produktionsland: USA, 2013
Länge: 109 Min.
Kinostart: 3.Juli 2014
Verleih: NFP marketing & distribution

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