„20 Feet from Stardom” – Der Ruhm zum Greifen nah, Fluch oder Traum?
- Geschrieben von Anna Grillet -
Millionen kennen ihre Stimmen, kaum jemand ihre Namen: Die Background-Sängerinnen von Stars wie Bruce Springsteen, den Rolling Stones, Sting und Stevie Wonder haben den Stil der Popmusik aber maßgeblich geprägt.
Dokumentarfilmer Morgan Neville holt sie aus dem Schatten ins Rampenlicht, lässt seine Protagonistinnen erzählen über ihre Sehnsüchte, Abenteuer, Erfolge, Enttäuschungen. Vor allem über ihre Hingabe zur Musik. Dafür gab es zu Recht einen Oscar.
Von Background-Sängerinnen, heißt es, werden drei Dinge erwartet: Dass sie für einen guten Sound sorgen, keine großen Ansprüche stellen und nach der Show schnell verschwinden. Ob „Gimme Shelter” oder „Sweet Home Alabama”, die afroamerikanischen Mädchen gaben ab den Sechziger Jahren Songs jenen unverwechselbaren Klang, Power und Sinnlichkeit, nach dem britische Musiker wie David Bowie gierten. Was für Talente, umwerfend, jede dieser Frauen.
Viele von ihnen sind aufgewachsen mit dem Wechselgesang schwarzer Gospelchöre, das Prinzip ‚Call and Response’ ist ihnen ins Blut übergegangen. Die ideale Vorbereitung für Bühne und Aufnahmestudio. Merry Clayton, Claudia Lennear, Gloria Jones und Táta Vega behaupteten sich für Jahrzehnte in der Branche, manche hofften auf eine Solokarriere, anderen genügt ihre Rolle im Hintergrund. Mick Jagger kommentiert es ein wenig herablassend: „Ich würde mit Singen von ‚Uuuhs’ und ‚Aaaahs’ nicht mein Geld verdienen wollen.” Lisa Fischer (55) leistet wahrlich mehr, sie tourte mit Tina Turner und Sting, der ihr „eine monströse Begabung” bescheinigt. Seit 1989 begleitete sie jede Tournee der Stones. Wenn Lisa bei „Gimme Shelter” ihr kraftvoll melancholisch rockiges Röhren ertönen lässt, tritt sie als Micks Partnerin für einen Augenblick ins Scheinwerferlicht, ihr Charisma begeistert Publikum wie Kollegen. 1991 erschien ihr Debütalbum „So Intense”, die Single „How Can I Ease the Pain” wurde mit einem Granny ausgezeichnet, aber der Durchbruch gelang nicht. Backgroundsängerin: Sprungbrett oder Sackgasse? „Manche Leute tun alles dafür, bekannt zu werden, andere wollen einfach nur singen,” sagt Lisa Fischer.
Die verschiedenen Schicksale werden zu einer Collage verwoben, es sind nur Momentaufnahmen, Erinnerungen, Bühnenauftritte, Anekdoten, Begegnungen, nostalgisch, traurig, komisch, voller Selbstironie. Ein Blick hinter die Kulisse der Musikindustrie mit all ihren Schattenseiten, der Preis für den Glamour. Das Erschreckende wie Faszinierende, diese Sängerinnen haben manchmal mehr Talent und Ausstrahlung als die Stars, die sie begleiten. Gewürdigt wurde das nie, doch die Frauen wissen um ihre Fähigkeiten, ihre Stärken, das verbindet sie zu einer verschworenen Gemeinschaft. Noch mit 60, 70 Jahren beeindrucken sie durch ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein, ihren Stolz, Witz, ihre entwaffnende Natürlichkeit, die Kamera liebt sie, damals wie heute. Keine Bitterkeit, keine Larmoyanz, selbst wenn sie zwischendurch Putzen gehen mussten oder jetzt mit Sprachunterricht ihr Geld verdienen. „Ich habe mir nicht vorgenommen heute Abend bin ich ein Sex-Symbol”, sagt Claudia Lennear, aber genau das waren sie, sie hatten den Appeal, der den weißen, braven etwas ungelenken Backgroundsängerinnen so völlig fehlte. Die männlichen Stars brauchten ihre Stimmen für den rauchig melodischen Klangteppich, ihre Erotik um die Atmosphäre anzuheizen. Es funktionierte, und Morgan Neville gelingt es diesen explosiven Zauber rüberzubringen ohne von den Problemen jener Zeit abzulenken: Bürgerrechtsbewegung, Kampf gegen Unterdrückung und für Gleichberechtigung, sexuellen Revolution, Politik als Subtext. Bei Ike Turner hießen die Mädchen „Ikettes”. Es hatte etwas von Anschaffen und Ausbeutung. „Ike Turner sah sich als Zuhälter. Und die Sängerinnen – auch seine Frau – als seine Huren”, erläutert Branchenkenner Todd Boyd. Claudia Lennear erinnert sich: „Er sorgte dafür, dass man einen bestimmten Look hatte und auf eine bestimmt Art tanzte, sich bewegte.” Zwischenmenschlich kam man sich vielleicht näher, aber die Hierarchie blieb was sie war, unüberwindlich. „Claudia Lennear war die heißeste von den Ikettes” schwärmt der siebzigjährige Mick noch heute, macht ein wenig auf sympathischer Macho: „Großartige Tänzerin. Ein heißes, schönes Mädchen.” Und wohl auch die Inspiration für seinen Song „Brown Sugar”.
Die Stars wie Sting oder Springsteen müssen sich bei Morgan Neville („Troubadours”, „Johnny Cash’s America”) dieses Mal mit der zweiten Reihe begnügen, bleiben brav auf den zugewiesenen Plätzen und schildern die gemeinsame Zusammenarbeit aus ihrer Perspektive. Sind die Künstlerinnen wirklich gescheitert, wie viele Kritiker schreiben? Nein, ohne sie gäbe es diese atemberaubende Musik nicht. Fatal nur, dass ihre Kreativität, ihr legendäres Talent so runtergespielt wurde. Schon der Begriff Background-Sängerin ist irreführend, sie selbst bezeichnen sich nie als solche. In der Musikszene war nur Platz für eine Aretha Franklin und so hatten es die anderen schwer in jenen Jahren. Darlene Love (72) begleitete in ihrer Jugend Sam Cooke, Frank Sinatra und war Lead-Sängerin der „The Blossoms”. Das begehrte Begleitensemble war in Dutzenden Top-40-Songs zu hören. In den Sechzigern landete Darlene bei dem Produzenten Phil Spector („Wailing Wall of Sound”). Sie war die Lead-Stimme in Chart-Stürmern wie „He’s a Rebel” und „Today I Met the Boy I’m Gonna Marry”. Wirkliche Berühmtheit erlangte sie nie. „Mit Phil Spector konnte es keinen anderen Star im Raum geben, also packte er Darlene in einen Käfig. Ihre besten Leistungen wurden nicht einmal unter ihrem Namen veröffentlicht,” erklärt Musikhistoriker Warren Zanes. Die Sängerin blieb im Background, aber im Dezember 2010 wurde sie in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen und genießt es nach vier Jahrzehnten wieder bei „The Blossoms” zu singen. Phil Spector sitzt derweil wegen Totschlags seine Haftstrafe im kalifornischen Staatsgefängnis in Corcoran ab.
Die Idee zu der hinreißenden Hommage hatte der 2012 verstorbene Musikproduzent Gil Friesen. Dem Charme dieser Sängerinnen kann man schwer widerstehen. Entstanden ist eine ungewöhnliche Mischung aus Tragik, Tapferkeit, Humor, Soul, Rock, Rhythm & Blues, amüsanten Interviews, Insider-Wissen, grandiosem Archivmaterial und Evergreens. „20 Feet from Stardom” ist gedreht in der Tradition des amerikanischen Dokumentarklassikers „Standing in the Shadows of Motown” (2002) von Paul Justman, der Geschichte einer Gruppe von Studiomusikern, ‚The Funk Brothers’, die seit Ende der Fünfziger bis Anfang der Siebziger Jahre für Motown, dem berühmten Detroiter Plattenlabel arbeiteten. Obwohl die Musiker als Begleitband vieler berühmter Künstler etliche Hits einspielten, waren sie selbst lange Zeit weitgehend unbekannt geblieben. Die Ära des professionellem Backgroundgesangs geht ihrem Ende zu, die Technik ersetzt sie und große Talente wie einst Darlene Love werden heute durch die Mittelmäßigkeit der Gewinner quotenträchtiger Castingshows abgelöst. Zur neuen Generation begabter Künstlerinnen gehört die 29jährige Judith Hill. Sie wurde gebucht, um Michael Jackson 2009 bei seiner mit Spannung erwarteten „This is It” Konzertserie in der Londoner O2-Arena als Background-Sängerin zu begleiten. Der ‚King of Pop’ starb und Hill wurde eine der Solistinnen bei seiner Gedenkveranstaltung. Etwa eine Milliarde Menschen hat weltweit mitverfolgt, wie sie Jacksons „Heal the World” sang. Im Film zögert Hill, soll sie wirklich aufhören mit Stars wie Elton John und Stevie Wonder auf Tour zu gehen und stattdessen eine Karriere als Solokünstlerin zu versuchen: „Wenn du Background-Sängerin bist, ist das am Anfang ein Sprungbrett, aber daraus kann schnell Treibsand werden.”
Originaltitel: 20 Feet from Stardom
Regie: Morgan Neville
Mit: Darlene Love, Lisa Fischer, Judith Hill, Merry Clayton, Sting, Bruce Springsteen, Mick Jagger, Stevie Wonder, Bette Midler
Produktionsland: USA, 2013, Länge: 89 Min.
Verleih: Weltkino Filmverleih
Kinostart: 24. April 2014
Fotos: Copyright Graham Willoughby & Weltkino
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