Film

Das bildgewaltige Schwarz-Weiß-Opus des deutschen Regisseurs Timm Kröger „Die Theorie von allem“ gehörte zu den Highlights des diesjährigen Hamburger Filmfests. 

 

In dem opulenten Mystery Noir von höchst eigenwilliger Textur überschneiden sich die verschiedensten Einflüsse und Perspektiven aus Literatur, Wissenschaft und Kino. Da treffen Alfred Hitchcock, Orson Welles, Andrei Tarkovsky, David Lynch und Erich Kästner auf Nouvelle Vague, Spionage-Drama, kalten Krieg, atomaren Horror und Schrödingers Katze. Über letztere sagt der Regisseur, hier sei sie hirntot und genial zugleich. Resultat: Ein intellektuell abenteuerlicher und amüsant verwirrender Zauberberg der Doppelgänger, ästhetisch überragend.

 

1962. Johannes Leinert (Jan Bülow) reist mit seinem Doktorvater (Hanns Zischler) zu einem Physikerkongress ins abgelegene Schweizer Luxus-Hotel Esplanade hoch oben in den Bergen. Mit Spannung erwartet der angeblich bahnbrechende Vortrag eines iranischen Wissenschaftlers über Quantenmechanik, doch der Redner trifft nicht ein, scheint unauffindbar. Die illustren Damen und Herren vertreiben sich stattdessen die Zeit mit geistreichen Dinner-Partys und Ski-Ausflügen oder genießen im Liegestuhl Sonne und Aussicht auf die überwältigende Schneelandschaft. Johannes brütet über seiner Dissertation. Schon während der Zugfahrt lässt der übellaunige Dr. Strathen den Jüngeren spüren, wie wenig er von dessen Arbeit hält, er zelebriert seine Verachtung und genießt die Macht der Herablassung. Ganz anders der lebhafte joviale Prof. Blumberg (Gottfried Breitfuß), der unerwartet auftaucht, sehr zum Missfallen von Julius Strathen, man kennt sich vom Studium her. Heinrich Blumberg, nennt sich Henry, vielleicht war er ins Ausland emigriert, um einiges erfolgreicher als sein bornierter Kollege, die Vielwelten-Theorie von Johannes hält er für brillant und ermutigt den ständig Drangsalierten. Irgendwann sehen wir den beleibten Professor leise murmelnd über den Boden der Empfangshalle kriechen. Was sieht er dort in den Teppichmustern, was uns verschlossen bleibt? Spätestens seit Horror-Filmen wie Kubricks „Shining“ (1980) widmen wir Teppichmustern in Hotels erhöhte Aufmerksamkeit. 

 

Bald schon verliebt sich unser Protagonist in die junge Jazz-Pianistin Karin Hönig (Olivia Ross). Johannes hat das trügerische Gefühl, sie seit ewigen Zeiten zu kennen, die geheimnisvolle Femme fatale verneint das kategorisch, um dann ihm zu eröffnen, er hätte, als er klein war, fast einen Waldbrand ausgelöst. Woher weiß sie, was eigentlich nur er wissen kann? Einer der Physiker kommt auf monströse Weise um Leben, die Kommissare Arnold (David Bennent) und Anreim (Philippe Graber) übernehmen die Mordermittlung. Während bizarre Wolkenformationen am Himmel auftreten, verschwindet die Pianistin spurlos. Johannes gerät in den Sog eines Geheimnisses, das in der Tiefe des Berges seinen Ursprung hat. Dort wurde einst Uranerz abgebaut, nun fürchtet man die Freisetzung radioaktiver Strahlung.

 

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Timm Kröger schreibt in seinem Statement über „Die Theorie von allem“: „Dieser Film begann- wie so viele seiner Art- als Traum; darin eine heimelige und doch eigenartig fremde Bergwelt, ein Physikerkongress, der natürlich niemals stattzufinden scheint und eine amorphe „Verschwörung“, die bis zuletzt undurchsichtig bleibt. Und dieser Film soll sich anfühlen wie ein Traum; einer, der so eigenartig wie unterhaltsam sein darf, und der auch immer wieder auf ein Kino von früher – oder eher: auf eine amalgamierte Erinnerung eines Kinos von früher rekurriert - ein bisschen so als hätten Hitchcock, Lynch (und viele andere, bekannte und vergessene Gestalten) auf dem Teppich einer alten Hotellobby Liebe gemacht. Dazu gehört Musik: „Gebrauchsmusik“ wie bei Hermann oder Misraki, die pathetisch und lärmend und naiv, aber auch komplex und filigran und widerspenstig sein muss. So wie das, was wir unter klassischer Filmmusik verstehen, ja die längste Zeit in einem spätromantischen Zwischenstadium gefangen blieb, und dabei zu den zu den besten Zeiten in der Lage war, die gleiche Strecke Zeit mit genauso ironischer Distanz wie ehrlichem Gefühl zu füllen. 

 

Genau diese Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Haltungen und Gefühle hat mich bei diesem Film interessiert - folgen wir hier den tragischen (& vielleicht allzu bekannten) Geschichten eines unentdeckten Genies oder betrachten wir die leicht paranoiden Verwirrungen eines unfertigen Idioten, der metaphysischen Schatten hinterherjagt? Dieser Film tut immer beides. Und streift dabei en passant einige unverdaut gebliebene Phänomene des 20. Jahrhunderts, diesem langen, sonderbaren Jahrhundert, das es trotz aller realer Schrecken und der Entdeckung chemischer Psychedelika nicht geschafft hat, die alte Idee des Individualgenies zu zerstören, das glaubt, vom Schicksal geleitet zu sein und göttlichen Offenbarungen nachzugehen. Die Alternative - der Gedanke nämlich, ein indifferentes chaotisches Universum zu bewohnen- bleibt für uns unerträglich- obwohl die Beweislage, die in diese Richtung geht, manchmal erdrückend scheint (und ich persönlich beiden Möglichkeiten ähnlich viel abgewinnen kann). Aber diese Unsicherheit lässt uns mit einer unbeantworteten- und vielleicht unbeantwortbaren - Frage zurück: Was hat das alles zu bedeuten? Und kann es überhaupt irgendetwas bedeuten? 

 

Das Produktivste, was einer Antwort vielleicht nahekommt, ist für mich das Multiversum des Kinos- und seine bis heute andauernde Fähigkeit, unsere kollektiven Träume und die Falltüren der sogenannten Realität miteinander zu verschmelzen, die alten Karten neu zu mischen. Genau wie Johannes wissen wir vielleicht gar nicht, wer die seltsame Musik geschrieben hat, die aus dem Flur zu hören ist; aber wir kennen die Melodie."

 

„Zerrumpelt Herz“, Timm Krögers Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg lief 2014 auf der Biennale in Venedig in der Reihe Settiman della critica und ist der Vorgänger von „Die Theorie von allem“. Der Horror-Thriller spielt im Jahr 1929 und handelt von einem verschwundenen Komponisten, von spätromantischer Musik, Naturmystik als Quelle der Inspiration und jene in Deutschland damit unweigerlich verbundenen politischen Abgründe. Die Hauptfigur Johannes taucht dort bereits als kleiner Junge auf. Kröger übernahm thematische und stilistische Elemente, was beide Filme verbindet, ist die Idee des Individualgenies. Johannes Leinert ist 32 Jahre alt, „eigentlich viel zu alt, noch jung zu sein“, so der Regisseur, „der klassische Bildungsreisende, Zuschauersurrogat, Genie und Idiot in einer Person, ein unbeschriebenes Blatt, zutiefst überzeugt von seiner Idee des Multiversums, doch diese Tage hoch oben in den Bergen werden für immer sein Leben zeichnen." „Die Theorie von allem“ beginnt mit einem kurzen Epilog in Farbe aus dem Jahr 1974. Der Moderator einer norddeutschen Fernsehsendung kündigt Johannes Leinert als Autor eines Science Fiction Romans an, schon dadurch fühlt der sich diskreditiert, und verlässt vorzeitig das Studio, nicht ohne vorher den Blick fest auf die Kamera gerichtet, Karin zu bitten, sich bei ihm zu melden, egal wo sie sei. Zu diesem Zeitpunkt ahnt noch kein Zuschauer, um wen es sich bei der geheimnisvollen Karin handelt.  

 

Auf seine Art erzählt der wagemutige Genre-Mix mehrere Versionen ein- und derselben Geschichte. Trotzdem war Kröger und seinem Co-Autor Roderick Harich wichtig, dass die Zuschauer den Ereignisse um Johannes in einer linear verlaufenden Handlung folgen können, sie als unausweichlich empfinden. Als Zuschauer bleiben wir in der Perspektive des Protagonisten, der sich schließlich fragen muss, welche anderen Entscheidungen, Erfahrungen und Realitäten ihm für immer verschlossen bleiben werden. Für ihn ist Karin, so Kröger „..ein Geist aus einer anderen Welt; wenn man den Film aber aus ihrer Perspektive betrachtet (mit dem wenigen, was wir wissen), dann ist Johannes ein Geist, ein Untoter, ein falscher Wiedergänger… Nicht nur in der der Sci-Fi-Literatur gibt es den Topos vom Doppelgänger und dazu gehört oft der unausweichliche Showdown, in welchem den beiden Doppelgängern schließlich Fragen gestellt werden, auf die nur der echte Mensch, nicht sein falscher Doppelgänger die richtige Antwort wissen kann. In dieser Situation entfaltet sich echte Paranoia und auch die Frage, die dieser Film implizit stellt: was, wenn wir selbst die richtige Antwort nicht kennen, gar nicht kennen können; was, wenn wir selber unser falscher Doppelgänger sind? Von diesem Gefühl handelt der Film.“

 

Schon auf der Biennale in Venedig waren Kritik und Publikum begeistert von Krögers „Die Theorie von allem“. Der Reiz des atmosphärisch starken düsteren Thrillers liegt auch in seinen inneren Gegensätzen und Widersprüchen, den falschen Fährten, wahren Träumen und konspirativen Treffen, die sich dank Kameramann Roland Stuprich wundervoll zu einem bizarr überwältigendem Ganzen verbinden. Der Berg mit seinen tödlichen Geheimnissen beansprucht den Status eines Protagonisten. Die verschneite Landschaft erinnert an frühe Luis-Trenker-Filme. Jede Einzelheit scheint irgendwie vertraut und doch bedrohlich fremd. Unsere Erinnerung funktioniert seltsam, Kästners „Drei Männer im Schnee“ (1955), von Kurt Hoffmann inszeniert, kommen einem in den Sinn, wo doch gar nichts ins Bild passt, außer dem Schnee. Diese alpine Welt ist ohne Hoffnung auf Happy-Ends, stellt sie doch selbst das Ende als Phänomen in Frage. Der in Itzehoe geborene Timm Kröger versteht es, unsere Assoziationsfähigkeit herauszufordern. Kino als Multiversum. Die nationalsozialistische Vergangenheit ist omnipräsent, ein Bub am Hotelempfang hebt den Arm zum Hitlergruß, die Ohrfeige folgt prompt. 

 

Der kauzige Blumberg erinnert fatal an den Komiker Heinz Erhardt (1909-1979), und doch nimmt das exzentrisch Karikatureske den Figuren nichts von ihrer Ernsthaftigkeit oder Bedrohlichkeit. Er ist es, der Oppenheimer zitiert. Die Toten tauchen, als wäre nichts geschehen, wieder auf. Seit „Matrix“ (1999) sind wir süchtig nach mehrdimensionalen Existenzen, es ist weniger die Schuld der Wachowski Brothers, als die Realität mit ihrem sich verengenden Handlungsspielraum und geringen Fluchtmöglichkeiten. Dazu, eine Postmoderne, die sich, so Kröger, durch collagenhafte Zitatkultur auszeichnet und beständig auf das Schon-Da-Gewesene verweiset, das ging nicht spurlos an uns vorbei. Sollte etwa schon alles erzählt sein? Oder verbirgt es sich in den Lücken zwischen den Welten, das, wonach wir angeblich alle suchen, irgendeine Form von Sinn, Verbindung oder Erfüllung? Der Regisseur überlässt die Entscheidung den Zuschauern. 

 

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Die Theorie von allem

Regie: Timm Kröger

Drehbuch: Timm Kröger, Roderick Warich

Darsteller: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß, Philippe Graber, David Bennent

Produktionsland: Deutschland, Österreich, Frankreich

Länge: 118 Minuten

Kinostart: 26. Oktober 

Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Neue Visionen Filmverleih GmbH

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