David Cronenberg, Meister des Body-Horrors, begibt sich in dem dystopischen Science-Fiction-Thriller „Crimes of the Future“ auf eine verstörende wie eigenwillig erotische Exkursion in die inneren Galaxien unserer Existenz.
Ein kleiner Junge verdaut erfolgreich den eben mit Genuss verspeisten Plastikeimer. Als „meditative Annäherung“ deklariert der 79jährige kanadische Regisseur sein neues Werk über die Metamorphosen unserer Körper. Melancholisch ist dieser Film, düster und elegisch, ohne selbstgefällige Schockeffekte, wenn er provoziert, dann durch seine verblüffende Logik, die Überzeugungskraft und Weitsicht eines alternden Visionärs, der vom Künstler absolute Hingabe fordert.
Bei den Filmfestspielen in Cannes soll der Horror-Veteran („Crash“, „The Fly“, „A History of Violence“) gewarnt haben vor extremen Reaktionen auf sein Leinwand-Epos, doch weder verließen, wie angeblich befürchtet, die Zuschauer den Kinosaal in Scharen, noch klagten sie über Panikattacken, im Gegenteil. Manche Kritiker vermissten offensichtlich technisch aufwendige Schauer-Effekte und empfanden bedauerlicherweise den subtilen Thriller eher als komisch denn verstörend, wobei das einander nicht hätte ausschließen müssen. „Crimes of the Future“ tarnt sich bewusst als zurückhaltendes, intimes Drama. Es spielt in naher Zukunft, das Ambiente wirkt trist, verfallen, wie nach verlorenen Kriegen oder untergegangenen Kulturen. Gedreht wurde in Griechenland, man sieht keine Ruinen, aber spürt überall Vergänglichkeit und Gewalt. Die Welt ist ein gefährlicher Ort geworden, seit der Schmerz zu verschwinden droht. Die menschliche Spezies passt sich physisch und psychisch der synthetischen Umwelt an. Doch nicht jedem gelingt es, die Mutter des Jungen, der versessen war auf Plastik wie früher Kinder auf einen Cheeseburger, erstickt ihren Sohn mit einem Kissen.
Saul Tenser (Viggo Mortensen, „Falling") gilt als berühmter Performance-Künstler der Avantgarde. In seinem Körper entwickeln sich ständig neue Organe mit unbekannten Funktionen, die Caprice (Léa Seydoux, „The French Dispatch"), seine Partnerin, auf der Bühne tätowiert und herausoperiert. Die voyeuristischen Darbietungen des Duos sind begehrt, das Publikum begeistert. Daheim schläft Saul in einem gebärmutterartigen freischwebendem Bett, dem sogenannten orchibed, es wird inklusive Software und seltsamer Tentakel geliefert, verbindet sich mit dem menschlichen Nervensystem, diagnostiziert Schmerzen und Bedürfnisse des Körpers, erkennt sofort die Entwicklung neuer Zellen. Doch die Veränderungen erregen das Misstrauen der Regierung. Neue Organe sollen einer staatlichen Registrierungsbehörde gemeldet werden, Wippet (Don McKellar) und seine unscheinbare Assistentin Timlin (hinreißend Kristen Stewart, „Spencer") hocken in einem düster kafkaesken Office, leicht überfordert von der Aufgabe über die Evolution zu wachen. Sauls Innenleben weckt Begehren. Caprice, früher Unfallchirurgin, träumt davon, dem sinnentleerten Körper neue Bedeutung zu verleihen. Umarmungen werden hier zu kapriziösen Choreographien, Blut und Wunden vereint die Körper der Liebenden, sind nie abstoßend, die Sinnlichkeit erhebt sie zur schmerzvollen Kunstform.
Dem rebellischen Ästheten Saul gefällt eigentlich nicht, was mit den Körpern geschieht, insbesondere dem eigenen, aber Mutationen überschreiten ungefragt jede Grenze. Beim Öffnen des Innersten offenbart sich das Weltall. Timlin, der Saul zugesteht in einem „bürokratischen Sinne sexy zu sein“, entbrennt für den zerfleischenden Körperkult, umwirbt unverhohlen den Protagonisten, glaubt in ihm endlich das Herz der Finsternis zu entdecken, Operationen sind für sie der neue Sex. Saul mag ihr gegenüber nicht Position beziehen, tat er sich doch schon schwer mit dem alten Sex. Heimlich trifft er sich mit einem Cop der New Vice Unit (Welket Bunge, „Berlin Alexanderplatz“), ihm berichtet er von der Begegnung mit einem gewissen Dr. Nasatir, der ihn einspannen will für seinem Schönheitswettbewerb, dem „Inner Beauty Contest“, in der Kategorie „Best Original Organ“. Aktivisten formieren sich, um die Verdauung zu revolutionären, der Vater des ermordeten Jungen hofft auf eine Obduktion im Scheinwerferlicht. Wir, die Zuschauer sind dem Ansturm der Metapher kaum gewachsen. Mit „Crimes of the Future“ kehrt der Kult-Regisseur zu den Ursprüngen des Body-Horrors zurück, obgleich er die Bezeichnung Horror ablehnt, für ihn geht es um Schönheit. Das Drehbuch schrieb Cronenberg bereits vor mehr als 20 Jahren, er fragte sich, ob der Körper die Probleme lösen könnte, die wir kreiert haben. Plastik verdauen nicht nur um die Klimakatastrophe zu überwinden, sondern um zu wachsen, zu überleben. Kranke versuchen ihren Krankheiten etwas Positives abzugewinnen, genau das tut Saul, seine Sehnsucht ist, die Realität zu überlisten. Unsere Körper müssen sich ständig neu anpassen, wir versuchen emotional und philosophisch nicht den Anschluss zu verlieren. Cronenberg bezieht sich auf den Nobelpreis-Gewinner, Gerald Edelmann, der sagte, das menschliche Gehirn sei überhaupt nicht wie ein Computer. Es ähnle vielmehr einem Regenwald, der geprägt ist von dem permanenten Streben nach Dominanz genau wie zwischen Neuronen und den anderen Elementen unseres Gehirns.
Der Ekel, unverzichtbares Element in Cronenbergs Inszenierungen, ist nicht bloßer Effekt sondern seine Sicht auf die Welt. Auflösung des Bestehenden, Umsetzung, Aufbruch, Selbstfindung. Saul ist für den Regisseur das Model eines passionierten Künstlers, der sich seinem Publikum öffnet, offenbart in all seiner Verletzbarkeit, jede Ablehnung kann ihn vernichten, jedes Missverständnis zerstören. Mortensen gibt der Figur jene mystische Qualität eines verwundeten Rock-Stars, der sich entscheiden muss, wie sein Leben beenden. Sinnlichkeit ist in „Crimes of the Future“ mehr Ästhetik als Trieb, besitzt nie die Kraft von Julia Ducournaus Fantasy-Drama „Titane“ (2021). Man vermisst jene Eruption von Emotion: Fesselnd, brutal, verstörend, zärtlich, das Geheimnis bedingungsloser Liebe.
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Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg
Darsteller: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman, Lihi Kornowski
Produktionsland: Kanada, Großbritannien, Griechenland, 2022
Länge: 107 Minuten
Kinostart: 10. November 2022
Verleih: Weltkino Filmverleih
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih
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