Kurt Schwitters, neben Wilhelm Busch, das zweite Genie aus Niedersachsen im Pantheon der Kunst, lebte als Exilant von 1940 bis zu seinem Tod 1948 in England. Das dort entstandene Werk des Meisters wird jetzt im hannoverschen Sprengel Museum präsentiert.
Schwitters, der einst traditionelle Heidelandschaften, Dorfdächer und Porträts malte und dann in den mageren Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Merz-Bildern – auf Holz geleimten oder genagelten Kinokarten, Staniolpapieren, Fahrscheinen, zerrissenen Schuhsohlen, Garderobennummern, Knöpfe oder Federn – berühmt und erfolgreich wurde, musste erleben, wie die Nationalsozialisten seine Kunst diffamierten, sie als „vollendeten Wahnsinn“ bezeichneten. Er brach 1937 heimlich nach Norwegen auf, wo er in den Jahren zuvor seine Urlaube verbracht hatte. Nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen drei Jahre später floh er an Bord der „Fritjof Nansen“, dem letzten Eisbrecher, der das Land samt der norwegischen Exilregierung verließ, in Richtung England.
Auf der Isle of Man als „feindlicher Ausländer“ interniert, malte er neben Hausdächern Mitinsassen wie den Bildhauer Charoux in naturalistischer Manier. Nach einem Jahr wieder in Freiheit, strandete er in London, beteiligte sich an den Aktivitäten deutscher und österreichischer Exilanten und fand Anschluss an englische Künstler wie den abstrakten Maler Ben Nicolson und die Bildhauerin Barbara Hepworth. Seine großformatigen Collagen reduzierte er auf immer weniger Elemente. Schwitters begann, Skulpturen aus Gips zu modellieren. „Dancer“ etwa scheint aus einem Zweig oder Tierknochen geformt zu sein, die Glieder sehen aus wie Polypenbündel und ein sich verdrehende Bein unterstreicht die Verwundbarkeit.
Im Juni 1945 siedelte er mit seiner Lebensgefährtin Edith Thomas - seine Frau Helma war inzwischen gestorben - in den Lake District in Mittelengland nahe der Irischen See. Die Landschaft erinnerte ihn an Norwegen. Er malte Landschaftsbilder mit lockerem Pinselstrich und verwendete für seine Collagen unversponnene Wolle, Steine, Hummerschalen, Schneckengehäuse und Schafsknochen. Und er begann die Arbeit an seinem dritten Merz-Bau – der erste in Hannover war einer Brandbombe zum Opfer gefallen und der andere im norwegischen Lysaker unvollendet geblieben. Das New Yorker Museum of Modern Art unterstützte den Bau mit 1.000 Dollar. In einer Scheune, die ihm der Landlord Harry Pierce als Gegengabe für ein Porträt zur Verfügung gestellt hatte, begann Schwitters erneut an einem Labyrinth mit eingelassenen Porzellanscherben, Kochlöffel und einem Gummiball zu arbeiten. Für den von Krankheit gezeichneten 60-Jährigen Künstler erwies sich das Vorhaben als immer schwieriger. Am 8. Januar 1948 starb Schwitters, einen Tag nachdem ihm die britische Staatsangehörigkeit zuerkannt worden war.
Die Merz-Scheune wurde 1965 auf Betreiben des Schwitters-Bewunderer und Pop-Pioniers Richard Hamilton in die Hutton Gallery der Universität Newcastle transportiert, wo sie sich noch heute befindet.
Das in England entstandene Werk Schwitters' wurde bisher vernachlässigt. Zu Unrecht, wie die Hannoversche Ausstellung zeigt. Die finanziellen Nöte und Sorgen des einstigen Klebepioniers führten zu einer „raueren, dreckigeren, unruhigeren Kunst“, so die Mitverfasserin des Werkverzeichnisses Karin Orchard. Und die ist ganz unpathetisch, frei nach dem Satz, der auf einer Stele zu Ehren Schwitters' auf einem hannoverschen Friedhof steht: „Man kann ja nie wissen.“
„Schwitters in England"
Bis 25. August 2013 zu sehen im Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz, 30169 Hannover.
Der Katalog ist im Verlag HatjeCantz erschienen.
Abbildungsnachweis Galerie: Alle Kurt Schwitters © VG Bild-Kunst, Bonn 2013
01. Coloured wood construction, 1943, Skulptur, Holz, bemalt, 35x28,8 cm. Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, Leihgabe im Sprengel Museum Hannover. Foto: Kurt Schwitters Archiv im Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Aline Gwose / Michael Herling, Sprengel Museum Hannover
02. Dancer, 1943, Skulptur, Holz und Gips, bemalt. Privatbesitz, courtesy Galerie Gmurzynska. Foto: courtesy Galerie Gmurzynska
03. Kurt Schwitters beim Vortrag der Ursonate London 1944. Fotograf: Ernst Schwitters. Foto: Kurt Schwitters Archiv im Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Aline Gwose / Michael Herling, Sprengel Museum Hannover
04. Chicken and Egg, Egg and Chicken, 1946. Skulptur, Gips und Holz, bemalt. Tate London, Leihgabe Geoff Thomas, London. Foto: Tate Photography
05. C 21 John Bull. 1946 und 1947, Gouache, Stoff, Papierspitze, Papier und Collage auf Papier, 19,5x16,8 cm (Bild), 32,5x26,5 cm (Originalunterlage). Hannover, Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, Hannover. Foto: Kurt Schwitters Archiv im Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Aline Gwose / Michael Herling, Sprengel Museum Hannover
06. EN MORN, 1947, Collage, Transparentpapier und Papier auf Papier. Musée national d‘art moderne, Centre Pompidou, Paris. Foto: bpk, CNAC-MNAM, Bertrand Prévost
07. Zebra, 1947, Öl auf Papier. Privatbesitz. Foto: A. Kukulies, Düsseldorf
08. Green over yellow. 1947, Collage, Transparentpapier, Papier auf Papier. Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, Leihgabe im Sprengel Museum Hannover. Foto: Kurt Schwitters Archiv im Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Aline Gwose / Michael Herling, Sprengel Museum Hannover
09. 47 12 very complicated, 1947, Öl, Leinwand, Papier und Collage auf Papier, 24,4x21 cm (Bild), 32,4x26,2 cm (Originalunterlage). Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, Hannover
Fotograf: Aline Gwose / Michael Herling, Sprengel Museum Hannover.
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