Zum zweiten Mal wurde in diesem Herbst der mit 25.000 € dotierte Internationale Kunstpreis der Lübecker Possehl-Stiftung vergeben.
Diesen erhielt der US-Amerikaner Matt Mullican, der mit zwei Ausstellungen und noch anderen Aktivitäten unter dem Titel „Mapping the World“ gefeiert wird.
Die erste von drei Aktionen begann im Juli 2022 mit „Five Color Garden“. Kurz zuvor war der Lübecker Lindenteller unter Anleitung von Gärtnern der Vorwerker Diakonie mit ungefähr zehntausend Blumen bepflanzt worden, die das Sonnensystem abbildeten – eine schöne und dekorative Idee, die viel Anklang fand. Und nur wenige Tage später wurden sechstausend Blumen auf die von alten Bäumen beschattete Wiese vor dem gewaltigen Dom gesetzt, aber dieses Mal sollte es Kunst sein, noch dazu mit einem kosmologischen Anspruch – denn schließlich war es der Künstler Matt Mullican, der für die Konzeption des dekorativen Blumenbeets verantwortlich war. Nun, überheblich wollten die Festredner*innen nicht sein, und so gab einer von ihnen unter dem Beifall des bürgerlichen Publikums zu, dass auch der Lindenplatz Kunst sei. Denn alles „was Gärtner machen, ist Kunst.“ Also zweimal Kunst, aber nur einmal fühlt sich das Feuilleton zuständig.
Matt Mullican. „Five Color Garden“ Domwiese Lübeck, Foto: Felix König / 54grad
„Modernes Design und seine postmodernen Nachspiele geben sich daran zu erkennen, dass Farben und Bedeutungen weit auseinandertreten. Niemand besteht mehr darauf, die Hoffnung müsse grün codiert sein, während die Ferne, die Weite, die Umhüllung vom Unendlichen nach Blau verlange; wer immer noch meint, Rot sei die deklarierte Liebe, dem wird zu einem besseren Geschmack kaum noch zu verhelfen sein“, so Peter Sloterdijk in einer Kurzfassung seines jüngsten Buches über die Farblosigkeit („Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre“) in der jüngst erschienenen 50. Nummer der philosophischen Zeitschrift „der blaue reiter“. Hat Sloterdijk recht, oder sollte es doch möglich sein, dass ein Dichter, ein Philosoph oder ein Künstler noch heute eine (wenngleich sehr persönliche) Farbenlehre vorträgt und sie sogar „Kosmologie“ nennt? In Lübeck hat sich jemand wirklich dazu verstanden.
Mullican, 1951 im kalifornischen Santa Monica geboren – als Kalifornier „ja so etwas von entspannt“, wie einer der Festredner meinte –, nimmt für seinen „Five Color Garden“ wie auch für sein übriges Werk eine „kosmologische Konzeption“ in Anspruch, die er in Jahrzehnten entwickelt habe. Rot, so lernte die Lübecker Hautevolee an einem warmen Sommertag von der Bischöfin Fehrs, sei das Symbol des Subjektiven, Schwarzweiß der Sprache, Gelb die Farbe des Bewusstseins, Blau der Kreativität und Grün des Alltäglichen. Bischöfin Fehrs, die diese Kosmologie vortrug, vergaß nicht hinzuzufügen, es bleibe jedem überlassen, mit den Farben etwas anderes zu verbinden. Ähnlich äußerte sich zwei Monate später mit Oliver Zybok der Direktor der Lübecker Overbeck-Gesellschaft in St. Petri, wenngleich er, wenn sich der Berichterstatter hier nicht irrt, den Farben etwas andere Bedeutungen zuordnete als die Bischöfin. So war in St. Petri in der großen Ausstellung „Church“ das Blau dem Alltäglichen zugeordnet, nicht etwa das Grün.
Aber der Kunsttheoretiker wie die Theologin fanden sich darin einig, dass jeder sich sein eigenes Zeug denken dürfe. Die Klaviatur der Farben nannte sich bei beiden zwar „Kosmologie“, aber weder der antike Begriff noch jener der modernen Naturwissenschaft spielte hier irgendeine Rolle, sondern es war eine ziemlich schlichte Zuordnung von Farben zu verschiedenen Gegenstandsgebieten, die „world“ genannt werden. Löst sich hier nicht alles in Beliebigkeit auf? Wenn ich in den „Eisler“ schaue (das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“), dann lese ich unter dem Stichwort Kosmologie, das sie „den Begriff der Welt im Allgemeinen“ aufstellt. Kann es also eine Privatkosmologie überhaupt geben, und wenn ja, kann sie uns helfen, die Welt um uns herum zu verstehen oder neu zu deuten?
Überhaupt sollten uns die beiden Riesenausstellungen und ihre Besprechung durch Kurator*innen und Journalist*innen dazu anregen, über das Verhältnis von Kunst und Erkenntnis nachzudenken. Kann ein Künstler als Künstler forschen? Sind künstlerische Erkenntnisse andere Erkenntnisse als die, die ein Wissenschaftler, ein Mystiker oder ein Philosoph formuliert? Was macht sie anders, worin unterscheiden sie sich? Eine andere Frage bezieht sich auf die Realisation einer Zusammenschau von Erkenntnissen der verschiedensten Art, wie sie in der berühmten „Encyclopédie“ Denis Diderots (und noch anderen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts wie etwa dem deutschen „Zedler“) versucht wurde: ist so etwas heute noch möglich, ja ist es auch nur denkbar?
Mullican hat sich – so das Referat seiner Überlegungen durch einen Text, den die Possehl-Stiftung zur Verfügung gestellt hat – die folgenden Fragen gestellt, bei denen wir uns wiederum fragen können, ob sie berechtigt sind, ja, ob sie nicht wirklich ein jeder von uns stellen sollte. Oder sind sie schülerhaft naiv, führen sie in eine dilettantische Privatphilosophie? „Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?“ In ähnlich naiver Weise fragte einer der Festredner: „Was will der Künstler mir damit sagen? Was macht es mit mir?“. Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass es mit irgendeinem der „Besuchenden“, mit denen ich gesprochen habe, etwas „gemacht“ hat. Bei dem als Hitler verkleideten, den Hitler-Gruß präsentierenden Jonathan Meese, der vor drei Jahren in ähnlicher Weise von der Lübecker Presse gefeiert wurde, fühlte sich ein großer Teil des Publikums einfach nur abgestoßen, aber bei Mullican konnte man eher Ratlosigkeit beobachten, die allerdings von Sympathie nicht ganz frei war, weil er ein ernsthafter Mensch zu sein scheint. War es vielleicht allein die unerhörte Masse an Objekten und Papier, die jede Neugier erstickte?
Dem „Five Color Garden“ vor dem Dom folgte noch eine sehr große Kreidezeichnung auf dem Dach des Hansemuseums, die Formen der Backsteine aufnimmt und unter dem Titel „Five World Chart on Brick“ den Anspruch erhebt, eine Stadtentwicklung in stark vereinfachten Formen wiederzugeben. Sie ist noch bis zum 13. November zu besichtigen.
Matt Mullican: „Five World Chart On Brick”, Terrasse Europäisches Hansemuseum Lübeck. Foto: Olli Schmitt
Die erste Lübecker Ausstellung – „Church“ – wurde am 8. Oktober in der Kulturkirche St. Petri eröffnet, Lübecks einziger Hallenkirche, die nur noch gelegentlich religiösen Zwecken dient. Ihr gewaltiger, weiß gekalkter und ganz leerer Raum scheint zunächst ideal für Ausstellungen aller Art zu sein, aber es ist auffällig, dass seine immense Größe zu entsprechend überdimensionierten Installationen und Skulpturen motiviert. Anders wären sie wohl verloren…
Überdimensioniert ist auch die jetzt gezeigte Installation Mullicans: 211 schwarz-weiße Stellwände wurden zu drei sechs Meter hohen Gängen zusammengestellt, die vom Eingang in die Kirche auf das Kreuz zuführen. Die dabei verwendete Technik ist die der Frottage, bei der es sich um ein in China entwickeltes Verfahren handelt, das in der Übertragung eines Bildes durch Abreiben auf ein aufgelegtes Papier besteht und von Max Ernst 1925 für die moderne Kunst entdeckt wurde.
Die Frottagen zeigen allerlei, ohne dass sich ein Zusammenhang erkennen ließe. Die Betrachter sehen Gesichter, kleinere Schriftzüge und auffällig viele technisch anmutende, akkurate Zeichnungen. Weil sie ja schwarz-weiß sind, sollten sie wohl der Sprache zugeordnet werden. Hier wie auch später in der Kunsthalle stoßen die Besucher*innen auf so etwas wie eine Weltkugel (ähnlich dem kleinen Symbol, mit dem ein Computer seine Verbindung mit dem Internet anzeigt). Die Vorarbeiten zu diesen übergroßen Frottagen finden sich in geringerer Größe, aber in einer sehr großen Anzahl in einer kleinen Hütte an die Wand geheftet, und wer mag – denn zu freier, ja zu ungezügelter Assoziation fordern diese Bilder auf – darf an eine mittelalterliche Bauhütte denken. Aber das ist eine Assoziation, die wohl ins Nirgendwo führt.
Der Ausstellung „Church“ folgte eine Performance, in der der halbnackte Künstler unter Hypnose das Publikum mit seinen morgendlichen Verrichtungen bekannt machte – eine Performance, die nicht bei allen auf Zustimmung stieß und mit 120 Gästen wohl auch eher schwach besucht war, gemessen an dem vorab veranstalteten Werbegetrommel.
Matt Mullican: UnderR Hypnosos. Waking Up. Performance: 15.10.2022, St. Petri zu Lübeck. Foto: 54° - John Garve
Und schließlich „Mapping the World“, konzipiert als Werkschau, die in der Kunsthalle St. Annen einen Überblick über fünfzig Jahre Kunstproduktion Mullicans bietet – auf nicht weniger als vier Etagen, angefangen mit dem kellerartig-düsteren Untergeschoss, in dem man sich Videos anschauen kann. Vieles davon – auch in den oberen Stockwerken – ist dank kräftiger Farben und der überlegten Anordnung ästhetisch sehr reizvoll. Aber wie in St. Petri ist die schiere Fülle der ausgestellten Arbeiten überwältigend – das hat unter anderem zur Folge, dass sich das Publikum nur gelegentlich einem Detail widmen, ansonsten aber die gewaltigen Mengen von Papier und Zeichnungen kurz auf sich wirken lassen, um eilig weiterzuschreiten. Das gilt selbst für den gelungensten Teil dieser Werkschau, auf den man im obersten Stock triff. Mullican scheint lebhaft an Wissenschaft interessiert, besonders an der Technik und an Konstruktionszeichnungen. 449 matt glänzende Magnesiumplatten, die ausgesuchte Illustrationen der „Encyclopédie“ Denis Diderots wiedergeben, bilden eine Art Tempel – ihr matter, silbrig-metallischer Glanz, die sorgfältige Ausrichtung der gleichmäßig großen Platten, die Weite des Raumes vermitteln tatsächlich so etwas wie einen sakralen Eindruck. Eigentlich merkwürdig, wenn wir daran denken, dass es sich um die Würdigung eines ausgeprägt atheistischen Werkes handelt, um ein Buchprojekt von gewaltiger Größe und um die Wissenschaft oder die enzyklopädische Zusammenstellung ihrer Ergebnisse vor gut zweihundertfünfzig Jahren.
Matt Mullican. Mapping The World
Zu sehen bis Sonntag, 29. Januar 2023
Im St. Annen-Museum, St. Annen-Straße 15, in 23552 Lübeck.
Geöffnet: 01.04.-31.12.2022: 10-17 Uhr; 01.01.-31.03.2023: 11-17 Uhr.
Zu sehen bis Sonntag, 6. November 2022, St. Petri-Kirche zu Lübeck.
Geöffnet: täglich von 11 bis 16 Uhr.
„Five Color Garden“, Domwiese Lübeck, 17.07. bis 09.10.2022
Five World Chart On Brick”, Terrasse Europäisches Hansemuseum Lübeck, 23.09. bis 13.11.2022
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