Der bekannte Unbekannte oder der unbekannte Bekannte? Die jüngere Generation jedenfalls dürfte den Namen Nay bislang kaum gehört haben, dabei ist er in der Kunstwelt durchaus klangvoll.
Mit der großartig inszenierten Ausstellung „Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive“ in der Hamburger Kunsthalle wird einem der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhundert nach langer Zeit wieder die Referenz erwiesen, die er verdient.
Was für eine geballte Wucht an Kraft und Formenvielfalt! Was für eine Dynamik und Farbintensität! Während der Blick über die expressiv bis abstrakt-gestisch changierenden Gemälde des gebürtigen Berliners Ernst Wilhelm Nay (1902-1968) streift, kommen einem unwillkürlich die Klassiker der Moderne in den Sinn: Blitzt da nicht Kirchner, dort Picasso und an dritter Stelle Kandinsky auf?! Und ist das Spätwerk nicht von Matisse inspiriert? In fast jedem Bild sind Verweise auf berühmte Vorbilder zu entdecken, mal sind es Farb-, dann wieder Figurenkombinationen - und doch erscheint Nays Malerei ganz und gar eigen und selbstbestimmt. Diesen Eindruck sieht man in einem Aufsatz von Alfred Hentzen bestätigt: „Die straffe Gespanntheit der Komposition und auch die leuchtende kühle Farbigkeit des älteren Meisters (Ernst Ludwig Kirchner, Anm.d.R.) scheint er weiterzuentwickeln. Aber zugleich gehen deutliche Ströme von den Pariser Kubisten zu Nays Gestaltungsweise“, schreibt der spätere Direktor der Hamburger Kunsthalle im Jahr 1950. „Ein Zusammenschluss beider Möglichkeiten führt in Nays Kunst zu neuen Bildformen“.
Ernst Wilhelm Nay ist im Nachkriegsdeutschland der Maler der Stunde. Dem Alter nach gehört der gelernte Buchhändler und Meisterschüler von Karl Hofer an der Hochschule für Bildende Künste, Berlin, zwar der „Lost Generation“ an (jener Künstler*innen-Generation, die in den 1920er Jahren aufstiegen, im Dritten Reich verboten wurden und nach 1945 den Anschluss verpassten), doch mit der „archaischen Ursprünglichkeit und mythischen Wirklichkeit“ seiner Werke (die er den braunen Machthabern in der Nazi-Diktatur noch als ideologiekonform zu verkaufen suchte) steigt Nay rasch zu einem der bedeutendsten Vertreter der westdeutschen Nachkriegsmoderne auf. Seine Bilder touren um die Welt, werden 1959 auf der „documenta II, auf der Biennale in Sao Paulo und in New York gezeigt. 1960 erscheint Werner Haftmanns Nay-Monografie, zudem erhält der Maler, dessen kompakter, fast skulpturaler Duktus seit Mitte der 50er Jahre einer formal reduzierten, transparenten, dünnfarbigen, luftig leichten Malerei gewichen ist, den Guggenheim Preis, New York. 1962 folgt u.a. eine Einzelausstellung in New York und eine Retrospektive im Folkwang-Museum Essen zum 60. Geburtstag.
Mit der „Erfindung der Scheibe als artistisch bildnerisches Farbelement […] und zugleich magisch-mythisches Element“ 1954 hatte Erst Wilhelm Nay nach einer Schaffenskrise den Neuanfang gewagt und „den entscheidenden Punkt des Lebens erreicht“ (wie er notierte). Fasziniert von großen Denkern wie dem Philosophen Martin Heidecker, vor allem aber Naturwissenschaftlern wie Albert Einstein und dessen neue Erkenntnisse über Raum, Zeit, Dynamik und Materie, konzentrierte sich Nay auf die „Urzelle der Gestaltungskräfte“ (Haftmann) und entwarf konzentrisch kreiselnde Mikro- und Makrokosmen, die in ihren Überscheidungen immer wieder große magische Augen ergeben. „Sphärische, unbegrenzt anmutende Welten mit neben- und übereinander liegenden Scheiben in Rhythmischer Bewegung“, wie Kuratorin Karin Schick in dem empfehlenswerten Katalog schreibt. Nach ersten Amerikareisen und der Begegnung mit dem Abstrakten Expressionismus, mit Werken von Jackson Pollock, Robert Motherwell und Mark Rothko, stand es für Nay außer Frage, dass er zur internationalen Avantgarde zählte, die eine „weltzugewandten Transzendenz“ suchte: „Malewitsch, Kandinsky, Rothko, Tobey, Pollock, Nay. Das sind einige Namen, die diese universelle Kunst hervorbringen“, notierte er um 1958.
Ausgerechnet auf dem Höhepunkt seines Ruhms, als auf der dritten Documenta (1964) drei eigens angefertigte Riesenformate (jeweils 4 x 4 Meter groß) spektakulär über den Köpfen der Besucher schwebten und den Eindruck erweckten, als schauten unzählige Augen aus einem Farbraum vom Himmel herab, wurde Nays Werk nach allen Regeln der Kunst zerrissen. ZEIT-Kritiker Hans Platschek (1923-2000), selbst Maler, startete eine regelrechte Anti-Nay-Kampagne mit einer vernichtenden Kritik, indem er sich auf die bloße Aufzählung der Scheiben beschränkte und kein Wort über die Qualität der Malerei verlor. Lange Zeit galten die „Elementaren Bilder“ daraufhin als dekorativ und inhaltsleer. Heute erkennt man ihre Qualität, insbesondere, da Karin Schick zum Schluss des chronologisch geordneten Rundgangs ein Früh- und ein Spätwerk gegenüberstellt und damit klar macht, wie viel der Formensprache von Anfang an angelegt war. Auch hier hat sich ein Kreis geschlossen.
„Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive“
Zu sehen bis 7.8.2022, in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg.
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