Bildende Kunst
Alice Neel – Painter of Modern Life

Sie war eine Frau und ließ sich nicht verbiegen. Grund genug für die Kunstwelt, ihr Werk jahrzehntelang zu ignorieren. Alice Neel (1900-1984) passte einfach nicht zur Galeristen-Schickeria Downtown Manhattan und anderswo: Die Kommunistin, Frauenrechtlerin und alleinerziehende Mutter hatte nichts am Hut mit Action Painting, Minimal und den anderen Kunstströmungen ihrer Zeit.
Sie schuf vielmehr schmerzlich direkte Porträts, oftmals auch provokant-anstößige Akte. Menschenbilder, die den Zustand der jeweiligen Zeit spiegelten und das Seelenleben der Abgebildeten. In den USA kennt man Alice Neel seit Mitte der 1970er Jahre. Für das internationale Publikum jedoch gilt die amerikanische Ausnahmekünstlerin noch als echte Entdeckung: nach Helsinki, Den Haag und Arles zeigen die Deichtorhallen in Hamburg bis Januar 2018 die fulminante Retrospektive „Alice Neel – Painter of Modern Life“.

„Immer, wenn ich vor einer Leinwand saß, war ich glücklich. Denn es war eine Welt, in der ich tun konnte, was ich wollte“, sagte Alice Neel vier Jahre vor ihrem Tod. Malen war für sie mehr als eine Profession. Viel mehr! Es war Obsession – und eine Therapie: Unglückliche Beziehungen, Tod der ersten Tochter mit knapp einem Jahr, zweite Tochter durch den Vater entzogen, Nervenzusammenbruch, Selbstmordversuch, monatelanger Psychiatrieaufenthalt, Fehlgeburt, zwei Söhne von zwei weiteren Vätern – Alice Neel hat wahrlich nichts ausgelassen in ihrem Leben. Sie kannte all die Schicksalsschläge, die Menschen depressiv, verbittert oder zynisch werden lassen. Und genau das befähigte sie, ihre Mitmenschen so zu erfassen, dass man in ihnen ganze Geschichten lesen kann – egal, ob Nachbarn, Freunde, Prominente oder die eigenen Kinder. Mit ihrem Röntgenblick, großem Einfühlungsvermögen und manchmal auch mit beißendem Spott schaute sie hinter die Fassade und machte sichtbar, was sonst unsichtbar blieb: Verletzlichkeit und Resignation, Angst, Trauer und Todesahnung, aber auch Narzissmus und Boshaftigkeit. „Es braucht viel Mut im Leben, um es zu erzählen, wie es ist“, sagte Alice Neel einmal. Und: „Wenn ich nicht Malerin geworden wäre, dann wohl Psychoanalytikerin“. Ja, sie analysierte ihre Umgebung. Sie tat es mit einer figurativen, mitunter fast realistischen Malerei, die sich nirgendwo so recht einordnen lässt. Ein Mix aus Expressivität und Neuer Sachlichkeit, der Vorbilder der Kunstgeschichte, von Goya, über Van Gogh, Picasso bis zu Otto Dix und der Popart-Illustration, völlig selbstverständlich einfließen lässt. Einer Malerei, der man auch immer ansieht, ob sie Sympathie für ihr Model empfand oder nicht. Wenn ja, wurden die Gesichter liebevoll durchmodelliert, wenn nicht, konnte das leicht mal in eine fratzenhafte Karikatur ausarten.

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Kurator und Nachlassverwalter Jeremy Lewison hat für die Deichtorhallen 110 Bilder von Alice Neel zusammengestellt und eine chronologische Schau aufgebaut, die das gesamte Oeuvre überblickt. Angefangen 1926 mit einem recht konventionellen Ton-in-Ton-Bildnis ihres ersten Mannes Carlos Enriquz, bis zu dem imposanten Alterswerk der 1970er- und 80er-Jahre, das von den Protagonisten der wilden New Yorker Kunstszene jener Jahre dominiert wird. Das Ergebnis ist eine überwältigende Ausstellung, bei der man gar nicht weiß, was man hervorheben soll. Die großformatigen Akte mit demonstrativ zur Schau gestellten Geschlechtsmerkmalen, wie von dem Exzentriker Joe Gould (1933), dem Kunstkritiker John Perreault (1972) oder der hypnotisch uns anstarrenden Tochter Isabetta (1935)? Oder die zombihaft-gespenstische „Degenerierte Madonna“ mit dem Wasserkopf-Kind aus dem Krisenjahr 1930? Eines der vielen anderen anrührenden Mutter-und-Kind-Bildnisse, die sich durch ihr gesamtes Schaffen ziehen? Oder das Konterfei von Andy Wahrhol von 1970, zwei Jahre nach dem Attentat: Mit geschlossenen Augen, nackter Brust und einer riesigen Narbe quer über dem Oberkörper sitzt er da und wirkt seltsam zerbrechlich und transzendental.

Wie sagte Alice Neel: „Man kann Menschlichkeit nicht außen vorlassen. Wenn man keine Menschlichkeit hat, hat man gar nichts“.

Alice Neel – Painter of Modern Life
Zu sehen bis zum 14. Januar 2018 in den Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1-2.
Öffnungszeiten: Di-So 11-18 Uhr. Jeden 1. Do. im Monat: 11-21 Uhr.
Die Ausstellung wird von einem reich bebilderten Katalog begleitet, mit zahlreichen Texten von internationalen Autoren und Autorinnen, die Alice Neels Karriere aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Hrsg. der deutschen Ausgabe: Jeremy Lewison und Dirk Luckow. Texte von Bice Curiger, Petra Gördüren, Jeremy Lewison, Laura Stamps, Annamari Vänskä. Mercatorfonds, 240 Seiten, 130 Abbildungen, 26 × 30 cm, gebunden. Preis: 39,80 Euro.

Weitere Informationen

YouTube-Video:
- Alice Neel – Painter of Modern Life Teaser (00:38)
- Inside New York's Art World: Alice Neel (33:20)


Abbildungsnachweis:
Header: Sam Brody: Alice Neel with paintings, 1940 © Estate of Alice Neel
Galerie:
01. Alice Neel: Max White, 1935 © Smithsonian American Art Museum, Washington D.C.
02. Alice Neel: Elenka, 1936. Öl auf Leinwand, 61x50,8 cm. Metropolitan Museum of Art, New York, Gift of Rich Neel, 1987 Photo: © The Metropolitan Museum of Art / Art Resource / Scala, Florence 2015 © Estate of Alice Neel
03. Alice Neel: Hartley, 1966. Öl auf Leinwand. Courtesy of the National Gallery of Art, Washington © Estate of Alice Neel
04. Alice Neel: Pregnat Julie and Algis, 1967. Öl auf Leinwand. Photo: Malcolm Varon, New York © Estate of Alice Neel
05. Alice Neel: Nancy and the Twins (5 Months), 1971. Öl auf Leinwand. Photo: Malcolm Varon © Estate of Alice Neel
06. Jackie Curtis and Rita Red, 1970 Öl auf Leinwand. The Cleveland Museum of Art, Leonard C. Hanna, Jr. Fund 2009.345 © The Estate of Alice Neel
07. Alice Neel: Ginny and Elizabeth, 1975. Öl auf Leinwand. Foto: Ethan Palmer © Estate of Alice Neel.

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