Die kulturelle Aufarbeitung des nicht mehr existierenden Ostblocks ist seit Jahren ein virulentes Thema.
Viele Publikationen und Ausstellungen beschäftigen sich in den letzten Jahren mit der Sowjetunion, den Baltischen Staaten, mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Dass die sozialistische Kultur Jugoslawiens sich buchstäblich „zwischen den Stühlen“ befand und die unterschiedlichen politischen Systeme und Blöcke des Kalten Kriegs dort aufeinander trafen, macht die Aufarbeitung besonders interessant, weil sie bei weitem nicht klar und eindeutig zuzuordnen ist. Mischformen aus Ost und West trafen hier aufeinander und bildeten einen neuen, sich befruchtenden visuellen und architektonischen Ausdruck. Klassifizierung – Fehlanzeige.
Die besten Architekten Jugoslawiens „erschufen einzigartige synkretistische Räume und Gebäude, die die Grenzen zwischen den etablierten Kategorien der Moderne verwischten“, heißt es im Klappentext, des kürzlich erschienenen, englisch-sprachigen Buches mit dem Titel: „Modernism In-Between, The Mediatory Architectures of Socialist Yugoslavia“. Produziert wurde die Publikation in der Reihe „Architektur Städte“ vom Jovis-Verlag, Berlin.
Nicht nur, dass die Beschäftigung mit dieser von uns aus gesehen etwas abseits und in Vergessenheit geratenen Kultur- und Architekturgeschichte eine Großtat ist, allein die brillante fotografische Aufarbeitung des in Wien lebenden Wolfgang Thaler ist bemerkenswert. Thaler hat nämlich einen unglaublich guten Blick für Form, Raum, Proportion und architektonische Aussage. In der Reihung der Buchseiten und in der Ausstellung, die vor einiger Zeit im Architekturzentrum in Wien zu sehen war, lässt sich das unstrittig belegen. Der Fotograf schafft es bei vielen Aufnahmen, Baukunst und Blickwinkel in ein verblüffendes und sich gegenseitig ergänzendes Verhältnis zu bringen.
In einem Aufsatz mit dem Titel „Szenen einer unvollendeten Modernisierung“ schreiben die beiden Autoren und Architekturkritiker Maroje Mrduljaš und Vladimir Kulić: „Über die letzten drei Jahre hinweg hat Wolfgang Thaler die Region des ehemaligen Jugoslawien bereist, um die Architektur der sozialistischen Epoche zu fotografieren. Wir, die Autoren dieses Textes, haben ihm aufgrund unseres vermeintlichen Wissens als Architekturkritiker und -historiker Tipps für seine Reise gegeben. Gerüstet mit einer Handvoll Büchern, Stapeln alter Zeitschriften und Google Earth schickten wir Thaler mitleidlos auf hektische Großstadtboulevards, in abgelegene Bergdörfer, in Touristenstädte am Meer, verschlafene Vororte und allerlei unbewohnte Landschaften, ohne in jedem Fall selbst zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Was er vorfand, liegt nun, künstlerisch sorgfältig umgesetzt, als umfangreiches Fotoarchiv vor, das die bemerkenswerten Eigenheiten der Architektur Ex-Jugoslawiens als Gemeinschaftsprojekt einer rasanten Modernisierung dokumentiert.
Nach drei Jahren des Reisens ist jetzt ironischer Weise Thaler der wirkliche Experte für dieses Thema. Als einziger von uns dreien hat er alle, in seiner Ausstellung gezeigten Orte selbst gesehen. Aufgrund der fotografischen Belege seiner Erlebnisse müssen wir nun unsere alte, vorwiegend akademische Meinung über die von uns ausgewählten Gebäude revidieren. Diese Revision geht bisweilen in die negative Richtung, viel öfter aber nötigte sie uns, Qualitäten zu erkennen, die wir anhand der Pläne und historischen Fotos nicht geahnt hätten. Thalers fotografischer Blick wendet sich nämlich meist von klischeehaften Perspektiven ab. So findet er ungewöhnliche Blickwinkel auf berühmte Gebäude und trifft dadurch den Kern ihrer Stellung im jeweiligen Stadtgefüge, die Qualität baulicher Details, ihre technische Gewitztheit oder manchmal auch all dies auf einmal. Mit seiner Kamera gelang es Thaler zudem, einige Schätze zu heben, die die Architekturkritik übersehen hat und die daher nur wenigen Auserwählten bekannt waren.
Am meisten verblüfft jedoch, wie die ausgestellten Fotos das Vergehen der Zeit dokumentieren. Man erkennt die mannigfaltigen Schicksale der Gebäude, Städte und Landschaften eines durch gesellschaftliche Veränderungen, Vernachlässigung und Zerstörung überholten Staats und politischen Systems. Manche Bauwerke, meist politischer Art, sind wegen ihres Prestiges als Repräsentationsobjekte gut gealtert. Andere wieder stehen schlechter da und zerfallen unter den neuen sozialen und wirtschaftlichen Umständen, die ihre ursprüngliche Funktion nunmehr obsolet machen. Wieder andere sind ihrem eigenen Repräsentationszweck zum Opfer gefallen, der sie während des Kriegs in den 90er-Jahren zu Zielscheiben werden ließ. Subtil atmosphärisch vermitteln viele Bilder Thalers eine Melancholie, die man nur schwer von sich weisen kann. Unabwendbar erinnern sie uns nicht nur an die hohen Ideale, die sie einst verkörperten, sondern auch an den so plötzlich erfolgten tiefen Sturz in die Zerstörung.
In eine Ausstellung gebündelt, erzählen die Fotos von der außerordentlichen Vielfalt und der Eloquenz jener architektonischen Vokabulare, die in den kleinen, aber dennoch heterogenen kulturellen und geographischen Kosmos gepresst wurden, der einst Jugoslawien hieß. Fast jede internationale Architekturströmung nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich hier wieder, immer jedoch mit einem eigenen Dreh, der unmissverständlich auf den kulturellen Transfer hinweist. Vorbilder aus dem Ausland wurden nur übernommen, um sie an die hiesigen technischen und programmatischen Bedingungen anzupassen. Noch auffälliger ist, dass aus dieser Vielfalt mehrere höchst originelle Einzelstile hervorstechen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Region auf der internationalen Landkarte der Moderne viel prominenter sein müsste als bisher. Leider wurden selbst in ihren Heimatländern nur wenige dieser Stile systematisch erforscht und interpretiert – vom Ausland ganz zu schweigen. Aus der mittlerweile ausreichenden historischen Distanz erscheint mithin eine seriöse Historisierung mehr als nötig.
Die hier dargestellte Vielfalt des architektonischen Vokabulars könnte nicht Eingeweihte indes verwirren und zum falschen Eindruck Anlass geben, dass es in dieser Region zu jener Zeit nichts Gemeinsames gegeben hätte. Und in der Tat hat die Vielfalt System, da die verschiedenen Landesteile Jugoslawiens jeweils eigene architektonische Kulturen hervorbrachten, die entsprechend der Einwohner und der Nationalität recht prononcierte Profile entwickelten. Angesichts dieser Tatsache könnte man die Frage stellen, ob man das Land denn überhaupt als Einheit erforschen sollte. Wenn die nationalen Architekturen in dieser Region so unterschiedlich waren, wie es ihre spätere Divergenz nahe legt, gab es dann eigentlich Gemeinsamkeiten? Die Antwort ist natürlich: Ja! Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatten alle Landesteile dasselbe sozialistische System, dieselbe Außenpolitik, die ihre internationalen Beziehungen prägte, dasselbe Berufsystem für Architekten und auch ähnliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen. All das wirkt auf die Architektur viel stärker, als man sich vielleicht wünschen würde, wenn man wie wir von individueller Leistung und Genieanspruch geprägt ist.
Die wirkliche Frage ist also, was man durch die Erforschung der Region als Ganzes gewinnen kann. Ohne die offenkundigen Eigenheiten der einzelnen architektonischen Kulturen leugnen zu wollen, meinen wir, dass es aus einer gemeinsamen Perspektive mehr als nur eine Lektion zu lernen gibt. Diese Perspektive ist nicht nur aus rein akademischem Interesse fruchtbar, sondern auch im Sinn der jeweiligen Nationalkulturen. Bei Berücksichtigung der unleugbar gemeinsamen Vergangenheit kann ein besseres Verständnis der größeren jugoslawischen Zusammenhänge dazu beitragen, die Gemeinsamkeiten des Gesamtstaats, zugleich aber auch die Eigenheiten seiner nationalen Kulturen zu differenzieren. Die Besonderheiten letzterer kämen paradoxer Weise erst dadurch besser in den Blick. Besonders wichtig wäre dies für jene Teile der Region, deren moderne Architekturgeschichte noch nicht gut erkundet wurde. Eine gemeinsame Geschichte könnte zu jenem methodischen und theoretischen „Rüstzeug“ werden, mit dem man in der Folge die lokalen Geschichten besser zu schreiben im Stande ist.
So subjektiv und überraschend sie auch sind, öffnen Wolfgang Thalers Architekturfotos aus dem ehemaligen Jugoslawien zum ersten Mal ein breites Panorama auf den spannenden und äußerst vielfältigen Fundus der dortigen modernen und postmodernen Bauwerke. Zu Tage tritt eine Architektur, die bislang weder systematisch erforscht, noch unter dem Aspekt ihrer Gemeinsamkeit präsentiert wurde. Thalers lakonischer, aber, wie wir hoffen, anregender Überblick erinnert uns eindrücklich an die Werte und Ziele einer einzigartigen architektonischen Kultur – und einer Gesellschaft, die es zwar nicht mehr gibt, aber deren Leistungen jedenfalls verdienen, neu bewertet zu werden.“
Modernism In-Between: The Mediatory Architectures of Socialist Yugoslavia
Autoren: Text: Vladimir Kulić, Maroje Mrduljaš. Fotografie: Wolfgang ThalerEnglisch, Hardcover, 21 x 25 cm
272 Seiten mit 304 farbigen und schwarz-weißen Abbildungen
ISBN: 978-3-86859-147-7
Fotonachweis: © Wolfgang Thaler
Header: Detail aus David Finci: Pelegrin Hotel, Kupari, 1962
Galerie:
01. Buchcover Modernism In-Between (Georgi Konstantiovski: Studentenwohnheim, Skopje, 1969)
02. Blick auf das Neue Belgrad.
03. Bozidar Janković, Branislav Karadzić und Aleksandar Stjepanivić: Block 23, Neu Belgrad, 1968-78
04. Kenzo Tange: Bahnhof in Skopje, 1968
05. Uglješa Bogunović, Slobodan Janjić (Architektur), Milan Krstić (Ingenieur): Fernsehturm auf dem Avala-berg nahe Belgrad, 1960-66
06. Edvard Ravinka: Bürotürme und Cankarjev Kongresszentrum am heutigen Platz der Republik, Ljubljana, 1960-74
07. Milorad Pantović: Halle 1 der Messe Belgrad, 1957 (Innenansicht)
08. Vojin Bakić und Berislav Serbetić: Monument für die Partisanen, Petrova Gora, 1979 (Aussenansicht)
09. Vojin Bakić und Berislav Serbetić: Monument für die Partisanen, Petrova Gora, 1979 (Innenansicht)
10. Bogdan Bogdanivić: Jasenovac Gedenkkomplex, Jasenovac, 1959-66
11. Ivan Vitić: Sim-Matavulj-Grundschule, Sbenik, 1950-61
12. Stojan Maksimović: Sava-Center und Intercontinental Hotel, Belgrad, 1976-79 (Innenansicht)
13. Ivan Vitić: Apartment-Haus in der Laginjina Straße, Zagreb, 1957-62
14. Bogdan Bogdanivić: Partisanenfriedhof, Mostar,, 1959-65
15. Vjenceslav Richter: Schule für Hotellerie und Tourismus, Dubrovnik, 1962
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