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Ist es das wichtigste philosophische Buch des Jahres? Ich glaube das ganz unbedingt.

Endlich – siebzig Jahre nach seinem Tod – sind die „Cirkelprotokolle“ von Nicolai Hartmann erschienen. Es dürfte schwerfallen, anregendere und interessantere Texte zu den zentralen Fragen der klassischen Philosophie zu finden.

 

Hartmann Studien COVERNicolai Hartmann (1880-1950) galt eine Zeitlang als der bedeutendste deutsche Philosoph. Das erste seiner systematischen Hauptwerke, die „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis“, beendete 1921 schlagartig die Vorherrschaft des Marburger Idealismus, der ihn selbst zuvor geprägt hatte. Auch seine „Ethik“ wurde viel gelesen, aber vielleicht ist nichts an seinem Werk bedeutender als die vierbändige „Ontologie“, die er zwischen 1935 und 1950 herausbrachte. Es ist für mich einer der großen Skandale der Philosophiegeschichte, dass dieser gewaltige Denker in der Folgezeit so sehr vergessen (oder beiseitegeschoben…) werden konnte. Immerhin, allmählich wird seinem Werk wieder mehr Beachtung geschenkt, es wird wieder über ihn publiziert, und gelegentlich werden auch einige seiner Bücher neu aufgelegt. So erschienen 2014 die „Studien zur neuen Ontologie und Anthropologie“, eine Sammlung kürzerer Arbeiten, und einer der Herausgeber, Gerald Hartung, ist auch an diesem Buch beteiligt, das eine Auswahl der „Cirkelprotokolle“ vorstellt.

 

Dreißig Jahre lang, von 1920 in Marburg über seine Stationen in Köln und Berlin bis zu seinem Tod 1950 in Göttingen, versammelte Hartmann in seinem Haus begabte Studenten und junge Kollegen – aber nicht, um ihnen eine Doktrin einzutrichtern oder auf seine Linie einzuschwören, sondern um mit ihnen als gleichberechtigten Diskussionspartnern schwierigste Probleme durchzusprechen. Es waren ergebnisoffene Dispute, keine Lehrveranstaltungen. Die Versammlungen in seinem Haus, „Cirkel“ genannt, folgten strengen Regeln, zu denen der Wechsel der Versammlungsleitung und die Übernahme der Protokollführung ebenso gehörten wie Bereitschaft und Fähigkeit, eigene Gedanken vorzutragen – es war direkt verpönt, sich auf Autoritäten zu berufen. Vielmehr ging es um eigene Analysen und Lösungsvorschläge, um das lebendige Gespräch als Ursprung und Lebenszentrum der Philosophie – nichts scheint Nicolai Hartmann über die Jahrzehnte hinweg wichtiger gewesen zu sein.

 

Diese Protokolle befinden sich seit einigen Jahren im Literaturarchiv Marbach. Von den Cirkeln wusste man schon seit langem, teils aus den Autobiographien einiger Teilnehmer, teils aus einem kleinen Bändchen, das 1954 unter dem Titel „Philosophische Gespräche“ zwei dieser Protokollserien vorstellte – immerhin mit einer Auflage von 5000 Stück. Trotzdem wurden nicht weitere Protokolle veröffentlicht, wahrscheinlich deshalb, weil sich die Philosophie Hartmanns in der Folgezeit immer mehr an den Rand gedrängt sah. Heute ist dieses erste Bändchen problemlos und für wenig Geld antiquarisch zu erhalten.

 

„Philosophie lernt man dadurch, daß man zusieht, wie es gemacht wird“ sagt Hans Blumenberg in einem Audio, das man sich auf YouTube anhören kann. „Deshalb“, fährt der Liebling des deutschen Feuilletons fort und wird mit dem einverstandenen Gelächter seines Auditoriums belohnt, „sind Seminare für die Philosophie so sehr und besonders ungeeignet, weil sie Versammlungen von Leuten sind, die gemeinsam nicht wissen, wie es gemacht wird.“ Eigentlich war das eine Beleidigung seiner Hörer, aber das schien denen nichts auszumachen. In jedem Fall war Hartmann aus anderem Holz als Blumenberg geschnitzt: Niemand wusste besser als er, „wie es gemacht wird“, aber das bedeutete nicht, dass er sich gerne reden hörte. Vielmehr war es ihm wichtig, was seine Schüler dachten und sagten, und wer die Protokolle liest, gewinnt den Eindruck, dass er Widerspruch nicht allein duldete, sondern sogar schätzte und vielleicht sogar genoss. Er lud nicht zu sich ein, damit man ergriffen seinen Ergießungen lauschte, sondern damit man gemeinsam nach Lösungen suchte.

 

Man muss dazu wissen, dass Hartmanns Philosophie von einer mehrgliedrigen Methode bestimmt wird. Der erste Schritt umfasst die Phänomenologie, also die möglichst unvoreingenommene Beschreibung der Phänomene, die zweite nennt sich „Aporetik“, denn ihre Lösungsvorschläge reichen zumindest bei den zentralen metaphysischen Problemen nicht aus. Dass die Diskussion aporetisch ist, bedeutet, dass die Probleme vorgestellt und ausgebreitet, aber bestenfalls in Teilen gelöst werden, weil der Kern eines metaphysischen Problems für Hartmann prinzipiell nicht lösbar ist. Deshalb ist es die Aufgabe der Aporetik, die Widersprüche und Paradoxien in besonders schroffer, zugespitzter Form herauszuarbeiten. Der dritte Schritt nennt sich Dialektik und besteht in der undogmatischen Eingliederung der Ergebnisse in einen weiteren Zusammenhang, in ihrer Deutung und Probe, indem man sie mit anderen Resultaten in Verbindung setzt. Was leistet der Gedanke? Was erklärt der Begriff? Das kann uns allein die Dialektik offenbaren.

 

Wie diese Beschreibung wenigstens andeutet, harmoniert das Philosophieverständnis eines Nicolai Hartmann nicht besonders gut mit dem Mainstream unserer Tage. „Die Unlösbarkeit ihrer Probleme“, heißt es zu Beginn seiner „Einführung in die Philosophie“, »ist ein wesentliches, charakteristisches Moment der Philosophie.“ Jürgen Habermas als einer der populärsten deutschen Philosophen seit dem 2. Weltkrieg dagegen fragt sich in seinem jüngsten Buch, „ob die Philosophie, wie wir sie kennen, noch eine Zukunft hat – ob sich nicht das Format jener Fragestellungen überlebt hat, sodass die Philosophie als Fach nur noch mit ihren begriffsanalytischen Fertigkeiten und als die Verwalterin ihrer eigenen Geschichte überlebt.“ Für Habermas ist also alles so weit klar, und deshalb kommt Hartmann mit seinen vielen Fragen in seiner Philosophiegeschichte auch gar nicht erst vor.

 

Wenn von den Cirkeln Hartmanns die Rede ist, dann spricht man von einer Zeit, in der ein Ordinarius meilenweit über den anderen Dozenten, noch viel mehr aber über seinen Studenten stand. Unter solchen Umständen muss das geradezu egalitäre Verhalten Hartmanns mehr als erstaunlich sein, denn er beanspruchte für sich selbst keinerlei Sonderrechte, sondern führte ganz selbstverständlich ebenso Protokoll wie seine Schüler und akzeptierte ebenso selbstverständlich Widerspruch. In seinem eigenen Protokoll kann man nachlesen, wie er selbst am Ende einer Sitzung eine ihm wichtige Frage „gar nicht berührt“ fand, sich aber von einem zweiundzwanzigjährigen Studenten korrigieren ließ: „Ich muß mich wundern. Ich habe die ganze Zeit von nichts anderem gesprochen. Der Herr Professor muß geschlafen haben.“

 

Der ihn da so selbstbewusst zurechtstutzte, war Gerhard Krüger, später ein bedeutender Platon-Forscher. Er war nur einer von mehreren Hochbegabten, die zu diesem Cirkel gehörten oder aus ihm hervorgingen. Die bedeutendsten unter ihnen waren Hans-Georg Gadamer und Helmuth Plessner; aber auch der erwähnte Gerhard Krüger, der Sprachphilosoph Bruno Liebrucks, der Historiker Thomas Nipperdey oder Hartmanns Schülerin Ingetrud Pape, später Professorin in Münster, müssen erwähnt werden.

 

Hartmann duldete nicht nur Widerspruch, sondern freute sich wahrscheinlich sogar darüber. Er muss ein ganz und gar uneitler, enorm offener und dazu vielseitig interessierter Geist gewesen sein! In diesen Zusammenhang gehört auch, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen, sein offensichtliches Desinteresse an Herkunft oder Religion; ganz selbstverständlich gab es sowohl jüdische Cirkelteilnehmer als auch Frauen, die in keiner Weise benachteiligt wurden.

 

Hartmann um 1900Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis machen: Als langjähriger Verehrer Hartmanns fürchtete ich, irgendwo in diesem Buch auf belastende Stellen zu stoßen, antisemitische Bemerkungen zum Beispiel oder solche, die ein schlechtes Licht auf seine Rolle zur Zeit des Nationalsozialismus werfen. Aber es findet sich nichts dergleichen, absolut gar nichts; fragwürdig könnte man allenfalls die totale Abwesenheit alles Politischen finden. Der 2. Weltkrieg zum Beispiel hinterließ keinerlei Spuren – der Cirkel diskutierte ungerührt im Wintersemester 1939/40, was ästhetische Werte seien! Hartmann kultivierte ein geradezu puristisches Verständnis von Philosophie, das nicht allein politische, sondern auch kulturkritische Stellungsnahmen strikt ausschloss. Stramm patriotische Schriften, wie sie der von ihm sonst geschätzte Max Scheler während des 1. Weltkrieges herausgehauen hatte, hätte er selbst niemals und keinen Umständen veröffentlicht, ja er las sie nicht einmal.

 

Kann ein einzelner, wenn auch dicker Band die Protokolle von dreißig Jahren enthalten? Natürlich nicht. Die Herausgeber mussten sich für eine repräsentative Auswahl entscheiden und suchten sechs große Themen aus. Es beginnt in Marburg (mit dem noch ganz jungen Gadamer im Kreis) und geht über Köln (als Plessner dazugehörte, bereits Dozent und mit der Niederschrift seiner „Stufen des Organischen“ beschäftigt, der vielleicht bedeutendsten Philosophie des Lebens im 20. Jahrhundert) über Berlin bis Göttingen, wo Hartmann, anders als sein Gegenspieler Heidegger vollkommen unbelastet, seine Lehrtätigkeit fortsetzen konnte, bis er 1950 starb.

 

Das Buch bietet zunächst die Transkription der handschriftlichen, nicht immer leicht lesbaren Protokolle mit Lesarten und Übersetzungen griechischer Fachbegriffe in Fußnoten. Die Diskussionen waren so ausgedehnt und thematisch so anspruchsvoll, dass manche Teilnehmer Tage mit ihrem Protokoll beschäftigt waren! Damals war Stenographie noch verbreitet, aber zusätzlich dürften manche auch auf die Notizen anderer oder auf ihr Gedächtnis zurückgegriffen haben. In jedem Fall ist die Genauigkeit der Protokolle und ihre Lebendigkeit erstaunlich. Denn es sind keine Ergebnis-, sondern Verlaufsprotokolle, bei denen einer Äußerung immer der Name des Teilnehmers zugeordnet werden kann.

 

Jeder der sechs Zyklen wird mit einer mehrseitigen, den Text gliedernden und kommentierenden Zusammenfassung eingeleitet. Dazu kommt eine umfassende Hartmann-Bibliographie am Ende des Buches mit einem Überblick über seine Lehrveranstaltungen, ein Personenregister und, besonders wichtig, ein alphabetisches Verzeichnis der Cirkel-Teilnehmer mit einem biographischen Abriss und ihren Hauptschriften. Denn kann man erwarten, sie alle in der Wikipedia zu finden?

 

Die Hauptmasse der Cirkel-Protokolle plant der Verlag auf einer eigenen Seite im Internet vorzustellen – offensichtlich wäre ihre Herausgabe in Buchform aus finanziellen Gründen nur schwer zu realisieren. Erwünscht wäre diese natürlich trotzdem. Es wird genug Ausschuss produziert, und die Regale der Bibliotheken biegen sich unter dem Gewicht von Büchern, auf die die Welt nun wirklich verzichten kann: da sollte für die Cirkelprotokolle Geld genug da sein, damit man sie in Ruhe im Sessel lesen kann, nicht nur auf dem Bildschirm.

 

Worum geht es nun um einzelnen? Größtenteils standen die Themen der klassischen Metaphysik im Focus der Diskussion. Im ersten Diskussionskreis geht es um das „Wesen des idealen Seins“ im Verhältnis zur Realität; besonderes Interesse gewinnt dabei der Status der ethischen Werte. Kurze Zeit darauf sollte Hartmann seine große „Ethik“ veröffentlichen, in der er die materiale Wertethik Schelers weiterentwickelte. Als Carl Schmitt 1967 seinen Essay über die „Tyrannei der Werte“ schrieb, wählte er ein Zitat aus Hartmanns Buch als Titel. Bei der Lektüre der Protokolle findet man nun, dass es ursprünglich Gerhard Krüger war, der von der „Despotie […] der Moralen“ sprach und damit sagen wollte, dass es die Anmaßung einer jeden ausschnitthaften Moral sei, eine Geltung für das Ganze des Lebens zu beanspruchen, für das sie keinesfalls gelten sollte und gelten durfte.

 

Eine eng verwandte Thematik – das „Wesen des Wesens“ – steht kurz darauf in Köln zur Diskussion. Es geht um den Unterschied zwischen dem Wesentlichen und dem Charakteristischen, das hier das „Wesenhafte“ genannt wird. Und es geht um den Gegensatz des Idealen und des Realen. Das Individuelle wird mit den Begriffen der Scholastik umkreist und als „die Vereinzelung hic et nunc“ (hier und jetzt,) angesprochen. In diesen Protokollen ist Helmuth Plessner eine zentrale Gestalt und dank seiner auch Antike und Mittelalter umfassenden Bildung ein Hartmann würdiger Widerpart. Vielleicht ist es eine Würdigung Plessners, dass Hartmann als Beispiel für das Charakteristische eine Handbewegung des Biologen und Philosophen Hans Driesch wählte – der nämlich war der Lehrer Plessners.

Hartmann vertritt ganz im Gegensatz zu seinen idealistisch argumentierenden Lehrern Hermann Cohen und Paul Natorp einen metaphysischen Realismus. In seiner Philosophie blickt er nicht in sich hinein oder auf sich zurück, sondern seiner Ontologie geht es um das Sein selbst. Die Gegebenheitsweise (der Blick auf das Bewusstsein zurück) war bestenfalls ein Nebenthema. „Für Jemand Sein“, liest man in den Protokollen, „ist für ideales wie reales Sein gleich nebensächlich“. Das ist die genaue Gegenposition zu derjenigen eines Heidegger oder eines Habermas, denn dem einen geht es immer um die „Jemeinigkeit“, der andere aber findet, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, das „verfügbare Weltwissen auf die eigene Person“ zu projizieren. Hartmann lehnte diese Reduktion auf das Subjektive strikt ab, und wahrscheinlich war das ein Grund (einer von mehreren), warum sein Werk nicht mehr seiner Bedeutung entsprechend gewürdigt wurde. Und vielleicht war seine Position hier auch ein wenig zu ablehnend.

 

Hartmann Dialoge COVERDas dritte Kapitel der Protokolle, Berlin 1931, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Begriff und Anschauung. Dabei gerät besonders die Rolle der Mathematik in den Blick und die Frage, inwieweit physikalische oder andere mathematisch formulierbare Gesetze Anschaulichkeit beanspruchen können. Unter Anschauung wird dabei zunächst die Zusammenfassung oder Zusammenschau des Einzelnen in einem Bild verstanden, aber später betont Hartmann selbst die Bedeutung des Schauens in dem „Übersehen des Ganzen“ und fügt hinzu: „beachten Sie dieses Wort!“ Aber selbst dort ist nicht das sinnliche Sehen gemeint, sondern die Anschaulichkeit fußt auf einem zutiefst rätselhaften Vorgang, in dem das Sehen „mit der Rechnung verkoppelt“ ist.

 

Im Wintersemester 39/40 werden „ästhetische Werte“ thematisiert – ich sprach es bereits an, dass eine solche Problemstellung zu Kriegsbeginn etwas merkwürdig anmutet. Aber weder im Protokoll noch in dem dieses Kapitel einleitenden Abstract wird auf die Zeitumstände eingegangen. Ebenso auffällig wie wenig überraschend ist noch etwas anderes: In diesem ersten Kriegswinter war eine Parität zwischen den Geschlechtern gegeben, denn an den Diskussionen nahmen so viele Frauen wie Männer teil.

Die Diskussionen dieser Zeit (und auch noch später in Göttingen) fallen gegenüber den Marburger und Kölner Cirkeln ein wenig ab, weil ein Hartmann gleichwertiger Widerpart fehlt; hier dominiert der Philosoph viel mehr, als er es zuvorgetan hat, er greift mehr ein, erkennt und korrigiert souverän die gedanklichen Fehler, fasst am Ende eines Abends zusammen und gibt die Fragestellung der nächsten Sitzung vor. Dabei kann es nicht überraschen, dass die Diskussionen über „Geistiges und seelisches Sein“ (Wintersemester 1939/40) stark von Überlegungen der philosophischen Anthropologie bestimmt werden.

 

Den Einfluss Helmuth Plessners kann man gut verstehen, denn Hartmann fühlte sich ihm seit Köln eng verbunden. Plessners Überlegungen in den „Stufen“ sind zweifellos stark von ihm selbst beeinflusst. Aber wie kommt es, dass Hartmann zur gleichen Zeit wie Arnold Gehlen und ohne Kenntnis von dessen noch unveröffentlichtem Buch denselben Gedanken findet und sogar dasselbe Wort benutzt, indem er von „Hemmung“ spricht? Immerhin handelt es sich um eine der zentralen Argumentationslinien Gehlens in „Der Mensch“ (1940): während ein Tier seinem Trieb hörig ist und ihm blind folgt, zeichnet den Menschen in den Worten Gehlens „die innere Distanz der Antriebe zur Handlung“ aus, und so ist die Hemmung „für den Menschen konstitutiv“. Wir tun eben nicht einfach nur, was uns unsere Natur oder uns Begehren nahelegt. Wenn Hartmann also sagt, das „Neue in der menschlichen Auffassung“ sei „die Hemmung“, dann hört es sich fast so an, als habe er bereits das Buch Gehlens gelesen, das er kurz darauf (1941/42) in einer kongenialen Besprechung würdigen sollte.

In der sechsten Dialogserie, 1948 in Göttingen, geht es um nicht weniger als um das Denken, aber trotz des unbestreitbaren Gedankenreichtums und der Dichte der Diskussionen: so richtig zufrieden bin ich hier nicht. Und Hartmann war es vielleicht auch nicht. Es gibt, sagt er in der vorletzten Sitzung, „ein großes Wunder des Denkens“, dem der Kreis seiner Überzeugung nach wohl nicht ganz gerecht geworden ist. Dieses Wunder liegt für ihn in der Fähigkeit des Gedankens, in die „Objektivität herauszutreten, so daß ein geschichtlich über die Person hinausgehendes Denken daraus wird. Man kann das: Erhebung in die Idealität nennen, das ist Erheben in eine Sphäre, in der solche Gesetzlichkeiten wie die logischen gelten.“ Aber so zielstrebig mochten die Teilnehmer, zu denen neben anderen Liebrucks, Pape und Nipperdey zählten, die Problematik nicht diskutieren; ihre Überlegungen sind zwar interessant, aber doch ein wenig zerfahren.

 

Wie hörte sich denn dieselbe Fragestellung bei der Konkurrenz an? „Das Bedenklichste an unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken.“, heißt es nur wenige Jahre später in einer Freiburger Vorlesung, die unter dem Titel „Was heißt Denken?“ von einem gewissen Martin Heidegger gehalten und schon bald darauf publiziert wurde. Ganz anders als bei Hartmann haben die Überlegungen Heideggers einen kulturkritischen Anstrich (oh!, das hätte die Schwarzwälder Pythia aber gar nicht gern gehört…), und außerdem klingt der Satz zwar hübsch bescheiden, ist aber in Wahrheit so snobistisch wie alles von diesem Herrn sonst – denn was bedeutet er anderes als ein Sich-Absetzen vom „Man“, also von der Masse? Das eine wie das andere hätte Hartmann niemals akzeptiert. Ihm und seinen Schülern ging es einzig und allein um eine Analyse des Denkens, darum, die verschiedenen Schichten, aus denen es sich zusammensetzt oder die es verbirgt, offenzulegen und ihr Verhältnis zueinander zu analysieren. Ich weiß nicht, ob sie damit sehr weit gekommen sind, aber zumindest enthalten die Protokolle auch zu diesem Thema eine Fülle von Anregungen.

 

Es handelt sich bei der Edition dieser sechs Cirkelprotokolle um ein ungemein wichtiges Buch, und sicherlich nicht allein aus philosophiehistorischen Gründen. Denn die Fragen, mit denen sich Hartmann herumschlug, wurden nach seinem Tod 1950 unterdrückt – das ist ein trauriges Thema für sich –, und es wird allerhöchste Zeit, sie wieder aufzunehmen und sich dem Werk dieses Genies zuzuwenden.


Joachim Fischer und Gerald Hartung (Hrsg.) unter Mitwirkung von Friedrich Hausen und Thomas Kessel: Nicolai Hartmanns Dialoge 1920-1950. Die „Cirkelprotokolle“.

492 Seiten, 5 Zabellen (sw)
Gebundene Ausgabe, ePub, PDF
De Gruyter, 2020
ISBN 978-3110425826
Weitere Informationen und Leseproben 

 

Nicolai Hartmann: Studien zur neuen Ontologie und Anthropologie. Herausgegeben von Gerald Hartung und Matthias Wunsch.

430 Seiten
Gebundene Ausgabe, ePub, PDF
De Gruyter 2014
ISBN 978-3110291193
Weitere Informationen

 

TU-Dresden-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

 

Abbildungsnachweis:

Buchumschläge

Nicolai Hartmann um 1900. Quelle: Universität St. Petersburg, gemeinfrei

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