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Was wäre geschehen, hätte sich Johann Sebastian Bach in jungen Jahren nicht nur nach Lübeck und Hamburg aufgemacht, um dort von seinen Orgel-Idolen Buxtehude und Reinken zu lernen, sondern hätte er sich auch nach Süden gewendet? Wäre nach Venedig ausgebüchst, um dort den sieben Jahre älteren Antonio Vivaldi zu treffen und mit ihm an der Riva dei Schiavoni den einen und anderen Ombra zu nehmen, im Ospedale delle Pietá Vivaldis Mädchenorchester zu lauschen und sich von dem Meisterviolinisten in dessen Kompositionsgeheimnisse einweihen zu lassen.
So wie das 1716/17 Johann Georg Pisendel tat, Violinist in Leipzig und Dresden, der seine Italienreise von den sächsischen Kurfürsten bezahlt bekam – der klassische Bildungsurlaub. Bach kannte Pisendel, der immerhin dicke Notenbündel aus Italien mitbrachte. Bach kopierte Vivaldi für seine umfängliche Notenbibliothek voller zeitgenössischer Musik, und er studierte ihn intensiv, arbeitete Violinkonzerte von Vivaldi zu Cembalo- und Orgelkonzerten um.
Kann es da nur Zufall sein, dass Bachs eigene Violinkonzerte ausgerechnet zwischen 1717 und 1723 entstanden sind? Oder kam der Impuls dazu doch aus Pisendels anregenden Italien-Souvenirs aus der Hand Vivaldis? Gleich acht Violinkonzerte soll Bach komponiert haben. Drei davon sind als solche erhalten, die anderen gingen den Weg so mancher Bachscher Komposition: Sie wurden weitererarbeitet zu Cembalokonzerten oder in Kantaten recycelt.

J. S. Bach: Violin ConcertosUmso spannender ist die Aufnahme, die Giuliano Carmignola, der herausragende italienische Vivaldi-Interpret, mit Concerto Köln eingespielt hat. Natürlich mit den drei Klassikern a-Moll, E-Dur und dem Doppelkonzert d-Moll. Dazu kommen zwei Rückübertragungen der Cembalokonzerte BWV 1052 und 1056, für die Marco Serino sich akribisch mit den Umarbeitungsprinzipien Bachs auseinandergesetzt hat, um möglichst dicht wieder an die Originale heranzukommen.
Das allein wäre aber noch nicht sonderlich bemerkenswert, rekonstruierte Bach-Violinkonzerte gibt es schließlich seit 30 Jahren in den unterschiedlichsten Aufnahmen, etwa von Itzchak Perlman, Thomas Zehetmair, Viktoria Mullova oder Isabelle Faust.

Carmingolas Interpretationen sind dadurch besonders, dass bei ihm der anregende Geist Vivaldis den Bachschen Kompositionen eine Frischzellenkur italienischer Herkunft angedeihen lässt, die mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Werke mehr Berechtigung hat, als man auf den ersten Blick meinen möchte.

Fast schon ein Hauch von Tod in Venedig
Das beginnt mit den durchweg munteren Tempi, in denen die Konzerte nur mit fulminanter Technik zu meistern sind, wie sie auch Bach und Vivaldi selbst auf der Violine besessen haben. Und wenn der Vorhang norddeutscher Strenge erst einmal beiseite geschoben ist, verraten viele der Konzertsätze ihre geheime Neigung zum Tänzerischen. So beginnt der erste Satz des a-Moll-Konzerts, ein recht lebhaftes, spielerisches Allegro moderato. Das dann von einem wunderschönen, geheimnisvoll sehnsüchtig über dem strengen Ostinato des Passacaglia-Basses schwebenden Andante gefolgt wird – als wär’s fast schon ein Hauch von Tod in Venedig. Um im dritten Satz eine elegant beiläufige Virtuosität zu entwickeln.
Das E-Dur-Konzert wirkt an manchen Stellen ein bisschen atemlos und verhuscht im schnellen Tempo, was aber die kadenzartigen Übergänge umso eindrücklicher hervortreten lässt. Das Adagio setzt nicht auf Romantik, sie bleibt hier im Knospenstadium. Carmignola spielt das bewusst unterkühlt, so wie er auch den dritten Satz treibt, als wolle er die hellblau-kühle Klarheit eines venezianischen Frühlingsmorgens illustrieren.
Auch das Doppelkonzert befreit der Italiener von norddeutsch fugiertem Ernst durch sein keck pointiertes, dabei aber unprätentiöses Spiel mit Doppelpartnerin Mayumi Hirasaki. Die lässige Perfektion und Eleganz seiner Bogentechnik kann dabei ebenso bewundert werden wie die dezent glühende Emotionalität im Largo, in dem die beiden Violinen im wiegenden Siciliano-Rhythmus einander umwerben. Um sich dann im eng geführten Kanon des Allegro in einem gewagten „Fang-mich“-Spiel voller Biss und Witz auszutoben.

Soundtrack zur Gondelfahrt bei Sonnenuntergang
Auch die beiden rekonstruierten Konzerte sind mehr von italienischer Leichtigkeit geprägt als von alttestamentarischer Strenge – was die grandiosen Einfälle Bachs noch sehr viel plastischer und überraschender hervortreten lässt. Und auch sie enthalten echte Juwelen: den Mittelsatz des g-Moll-Konzerts BWV 1056 etwa, den Bach noch einmal verwendete als Sinfonia mit Oboe solo in der Kantate 156: „Ich steh mit einem Fuß im Grabe“. Bei Carmignola ist von Grab so gar nichts zu spüren, er schafft ganz neue Zusammenhänge, lässt jeden Ton leuchten und delikat verglühen, fügt galante Auszierungen dazu – so wird das Largo zum idealen Soundtrack für eine Gondelfahrt bei Sonnenuntergang.
Das abschließende d-Moll-Konzert führt – alle drei Sätze davon sind noch einmal in Kantaten weiter gewandert – noch einmal vor, was passieren kann, wenn Bach und Vivaldi, einige Ombre später, noch einmal dicht zusammenrücken, sich ihre feinsten Kunststückchen vorführen und jeder vom anderen das Beste übernimmt. Ein Feuerwerk überlegen-funkelnder Virtuosität, dargeboten mit einem fröhlichen Augenzwinkern.
Concerto Köln ist für so eine Begegnung das perfekte Begleitensemble. Es lässt sich mit Verve auf Carmignolas „Bach trifft Vivaldi“-Experiment ein. Was dabei herauskommt, lässt den späteren Thomaskantor Bach deutlich lockerer aussehen und man wünscht sich, er hätte tatsächlich eine italienische Studienreise absolvieren können.

J. S. Bach: Violin Concertos
Giuliano Carmignola (Violine), Concerto Köln. CD
Archiv Produktion DG
479 2695.

Hörbeispiele


Abbildeungsnachweis:

Headerfoto: Anna Carmignola DG
CD-Cover

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