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Theater - Tanz

Es ist ein schwieriges Unternehmen, das viel Fingerspitzengefühl fordert: Das Ernst Deutsch Theater zeigt die neue Bühnenfassung zum Tagebuch der Anne Frank. Die Geschichte des jungen jüdischen Mädchens aus Frankfurt/Main, das 1933 mit seinen Eltern und der älteren Schwester auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Amsterdam kommt. Dort lebt die Familie zunächst in Frieden, bis der antisemitische Hass mit der deutschen Besatzung auch die Niederlande erreicht. Als der erste Deportationsbefehl ergeht, verstecken sich die Franks und vier andere Menschen im Hinterhaus von Otto Franks Firma. Mehr als zwei Jahre lang – ein Leben zwischen Unsichtbar-Machen, Angst vor Entdeckung, Verzweiflung und der Hoffnung auf ein rasches Kriegsende. Doch im August 1944 werden die Untergetauchten denunziert, verhaftet und deportiert. Anne Frank und ihre Schwester sterben im Konzentrationslager Berlen-Begsen im März 1945, ihre Mutter ist im Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau ermordet worden.

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Anne Frank schrieb Tagebuch in der Zeit vor der Entdeckung. Es ist eines der bedeutendsten Dokumente über die Situation, die Gefühle, Ängste und Träume verfolgter Menschen. Eine Bekannte, die den Versteckten half, hat es nach der Entdeckung an sich genommen. Der Vater, der als einziger der Familie die Zeit der Verfolgung überlebte, entschied sich, 1947 eine Version zu publizieren, aus der er allzu persönliche Passagen entfernte. Inzwischen sind diese Stellen wieder eingefügt, das ganze Tagebuch Anne Franks steht zur Verfügung. Sie hatte es selbst schon einmal schriftstellerisch bearbeitet, um es als Dokument des Lebens im Untergrund nach dem Krieg publizieren zu könne. Es wurde inzwischen in 80 Sprachen und mehr als 100 Ländern veröffentlicht.

Leon de Winter und Jessica Durlacher haben das Stücke „Anne“ geschrieben
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter, dessen Eltern mit Hilfe katholischer Priester und Nonnen den Holocaust in Verstecken überlebten, und seine Frau Jessica Durlacher, deren Vater als einziger seiner Familie das Konzentrationslager Auschwitz überlebte, haben den Auftrag angenommen, diese neue und vollständigere Fassung zu dramatisieren. Eine wichtige Aufgabe in Zeiten, da es nur noch wenige Zeitzeugen gibt, die von den Grausamkeiten der Judenverfolger erzählen können. Im Theater kann die Erinnerung wach gehalten, können die Gefühle wieder lebendig werden.

Um es vorweg zu sagen: Dem Team im Ernst-Deutsch-Theater um Regisseur Yves Jansen ist das auf eine Art gelungen, die beängstigend nahe gehen kann. Sie kommt ohne überdeutliche Schockelemente aus, und lotet so die Empathiefähigkeit, die Berührbarkeit der Zuschauer aus. Das Grauen schleicht sich nur manchmal ins Geschehen, wird von denen außerhalb des Verstecks berichtet. Nur selten bricht die Todesangst Bahn. Unter die Haut geht das, weil auf der Bühne Menschen agieren, die verzweifelt versuchen, ein bisschen Normalität und Menschsein in Zeiten existenzieller Bedrohung zu retten.

Natürlich versuchen die Elternpaare Frank (beruhigend und schlichtend Frank Jordan, und Isabella Vértes-Schütter, die unter die Haut gehend eine Mutter spielt, die ihr Kind nicht versteht und unter dessen Kommunikationssperre fast zerbricht) und van Pels (Steffen Gräbner und Jessica Kosmalla), die schlechten Nachrichten von den Kindern fernzuhalten, auch wenn sie selbst daran fast ersticken.

Während Margot Frank (Christina Arndt), die ältere Schwester Annes, alles richtig machen will und sich extrem zurücknimmt, ist Anne in der verblüffend lebendigen Darstellung von Kristin Suckow ein Wirbelwind, ein Mädchen auf dem Weg zur Schriftstellerin und eine tiefsinnige Alltagsphilosophin, eine lebenshungrige junge Frau und schüchterne Beinah-Liebhaberin des van-Pels-Sohns Peter (Meo Wulf). Sie kann tagträumen, ein Leben nach dem Krieg herbei fantasieren – und, hübscher Kunstgriff des Autorenpaars, immer wieder aus dem engen Versteck heraustreten und einem jungen Verleger, der gleichzeitig ihre erste Liebe Peter Schiff ist (Oliver Warsitz) erklären, was in ihrem Kopf abläuft, was sie denkt, wünscht, hasst.

„Annes“ springt großartig zwischen Chronik und Tagträumen
Darin und im Sprechen beim Schreiben des Tagebuchs wird die Figur Anne Frank fast so lebendig wie beim Lesen ihres Textes in Buchform. Gleich der Einstieg nimmt das Publikum mit in einen pastellbunten Nachkriegstraum: ein Treffen mit Freunden in Paris, die Einladung des Verlegers zum Essen, Annes unmäßige Lust zu essen, wie sie es geträumt hat. Dann ihr 13. Geburtstag, an dem sie das Tagebuch geschenkt bekommt. Das plötzliche Untertauchen. Die Gewöhnung an die Beschränkungen im Hinterhaus, die Routinen, die Konflikte, die in der Enge entstehen. Und die zarten Gefühle gegenüber Peter – es ist, auch wenn man die Geschehnisse ja kennt, ein spannender, ein berührender Theaterabend.

Dazu trägt auch das Bühnenbild von Peter Schmidt dar, das gewohnt abstrakt und puristisch das verwinkelte Versteck abbildet. Es hat Weit in der Enge, gibt Spielraum und lässt Bewegung zu, ohne ein untergründig klaustrophobisches Bild zu verbannen, öffnet ohne Wände ganz unterschiedliche Raumsituationen: drei Zimmer, ein Bad, und der Dachboden, auf dem sich Dinge tun, die den Eltern besser verborgen bleiben. Es zieht in die Geschichte hinein und bleibt doch dezent im Hintergrund. Mit einer halben Drehung der Drehbühne zeigt es eine Wand und das Aktenregal, das die Tür zum Überleben verdeckt.

De Winters und Durlachers Dramatisierung (Übersetzung: Martin Michael Driessen) ist kompakt, mal viele Facetten Anne Frank und ihres kurzen Lebens aus. Sie tun das ohne ein Wort zuviel und ohne den Schrecken der Situation auszumalen – dennoch ist er als Grundton in jeder Sekunde des Stücks präsent. Und sie finden einen überraschenden und würdigen Schluss – schwer genug bei einer Geschichte, von der fast jeder Zuschauer schon gehört hat.

Dass diese Geschichte über weite Strecken von erwachender Lebenslust handelt, vom Wunsch nach Freiheit, nach Glück, nach Liebe, das erinnert an einen Satz von Volkhard Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte Konzentrationslager Buchenwald, der sagte, die Erinnerungsarbeit mache man schließlich nicht, damit man sich jeden Abend erschüttert und niedergedrückt fühlen solle, sondern damit man den Wert des glücklichen, freien Lebens ohne Bedrohung und Gewalt deutlicher spüren kann und den Impuls mitnimmt, dafür auch einzutreten.
Das Stück im Ernst-Deutsch-Theater geht jedenfalls zu Herzen, und es führt wohl in vielen Fällen dazu, das Tagebuch der Anne Frank wieder oder überhaupt einmal zur Hand zu nehmen und es selbst zu lesen. Und festzustellen: Die Gedanken des altklugen Kindes und der aufblühenden jungen Frau haben viel, sehr viel mit der heutigen Zeit zu tun.

„Anne – Das Tagebuch der Anne Frank“
Von Leon de Winter und Jessica Durlacher
Zu sehen im Ernst-Deutsch-Theater, Friedrich- Schütter-Platz 1 (U Mundsburg). Noch bis 29. September, jeweils 19:30 Uhr. Karten unter (040) 2270 1420
Aufführungsdauer: ca. 2,5 Stunden, eine Pause
Karten: von 20,00 € bis 39,00 € / Ermäßigung auf Anfrage
Weitere Informationen

Video: Anne - Das Tagebuch der Anne Frank

Anne Frank: Tagebuch. Fischer Taschenbuch 15277. 320 Seiten, 7,95 Euro


Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Oliver Fantitsch
Header und Galerie: Szenenfotos aus dem Ernst-Deutsch-Theater Hamburg

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