Carl Philipp Emanuel Bach. Das Zeitalter des Wandels. Ein Gespräch (Teil 1)
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink und Claus Friede -
Hans-Juergen Fink (HJF): Sie drei haben sich 1988 schon einmal aus Anlass eines Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Jubiläums in Hamburg getroffen, zum 200. Todestag.
Thomas Hengelbrock (TH): Es gab damals den Bach-Wettbewerb, und dazu sind wir mit dem damals gerade drei Jahre jungen Freiburger Barockorchester engagiert worden, um die Preisträger beim Wettbewerb zu begleiten.
Thomas Pietsch (TP): Das war der erste internationale Wettbewerb, in dem Cembalo, Clavichord und Hammerflügel Pflicht waren. Ich hatte dieses ganze Festival mit initiiert, ich war ja damals mit Edith Picht-Axenfeld im Vorstand der Bach-Gesellschaft.
Menno van Delft (MvD): Ich habe in diesem Wettbewerb versucht, Preise zu gewinnen, kam ins Finale, hatte aber zuvor schon den Clavichord-Preis gewonnen. Die Idee war toll, die drei Instrumente zu kombinieren – das ist für alle Klavierspieler eine wichtige Erfahrung. Heute ist das bereits viel normaler.
HJF: Carl Philipp Emanuel Bach lebte in einer Epoche des Wechsels und der Weiterentwicklung – des musikalischen Stils wie der Instrumente. In der sogenannten Epoche der „Empfindsamkeit", die als Zwischenzeit heute aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden ist. Die Dichter werden kaum noch gelesen, die Musik wird kaum noch gespielt – was ist passiert?
TH: Ich glaube, dass CPE Bach damals in Berlin, wo dessen Karriere begonnen hat, ein extrem reges, intellektuell hoch stehendes Umfeld gefunden hat. Die ganze deutsche Musikschriftstellerei war in Berlin versammelt. Ein enorm interessantes Umfeld. Und wie wir aus der kleinen Autobiographie von CPE Bach wissen, hat er das sehr genossen, auch wenn er die Arbeit am Hof Friedrichs II. nicht sehr geschätzt hat. Er selber hatte sich mit seiner etwas bissigen, zynischen und zum Sarkasmus neigenden Art beim König ausgesprochen unbeliebt gemacht. Er war aber offenbar ein großartiger Gastgeber mit einem offenbar sehr regen gesellschaftlichen und kulturellen Netzwerk.
Das sollten wir heute nicht vergessen, wenn wir in Hamburg sagen: Wir sollten diese Epoche wiederbeleben. Was heißt das? Ich glaube, dass es einfacher ist, wenn sich Leute treffen, die viel über jene Zeit zu erzählen haben, wenn sich beispielsweise zeitgenössische Komponisten treffen, die toll und interessant schreiben, wenn sich Instrumentalisten, Professoren, Lehrer, Kulturschaffende treffen – das schafft ein innovatives Klima.
HJF: Hat Hamburg einen Hang zum Musealen?
TH: Auf der einen Seite wird Hamburg immer wieder vorgeworfen, dass es sein Erbe nicht pflegt, dass wir also zu wenig tun für Carl Phillip, für Telemann, für Händel, auch für die Älteren wie Keiser. Wir sollten sehr viel weiter denken und den Blick darauf haben, auch wirklich was Neues schaffen zu wollen – dass sich wieder dieses zeitgenössische Brodeln herstellt wie damals.
HJF: Als die Kultursenatorin vor zwei Tagen die Jubiläumsfeiern vorgestellt hat, standen drei Punkte im Zentrum: die gemeinsame Website der CPE-Bach-Städte – eine Hamburger Initiative, dann die 90 Konzerte und die anderen Veranstaltungen rund um den 300. Geburtstag von CPE Bach, und ein neues Museum an der Peterstraße, um das sich die Carl-Toepfer-Stiftung kümmert. Ist das die Musikstadt, die Sie sich vorstellen?
TH: Wir drei sind in unseren Anfängen immer mit diesem Schlagwort „historische Aufführungspraxis" belegt worden. Das war zunächst auch wichtig. Wir müssen aber heute schauen, dass wir die Musik, die wir spielen, für ein heutiges Publikum übersetzen,denn wir unterrichten diese Musik auch, sind alle als Lehrer tätig. Wir unterrichten diese Musik auch, weil wir überzeugt sind: Es gibt darin so viel Sprachmächtigkeit, soviel erzählerische Kraft, dass sie heute noch Gültigkeit hat. Wir versuchen nicht, etwas zu restaurieren und es dann wie ein altes Bild bei uns ins Wohnzimmer zu hängen!
TP: Das geht auch rein philosophisch nicht, weil es eine Kunst ist, die im Moment entsteht. Aber historische Aufführungspraxis meinte nicht nur die Quellen für unsere Instrumente zu studieren, sondern sich auch mit dem geistigen Umfeld zu befassen. Wir haben relativ viel dafür getan, damit dies in die Arbeit am Instrument und am Werk einfließt.
Claus Friede (CF): Heißt das, dass Sie sich synchronoptisch, also unter Berücksichtigung dessen, was in dieser Zeit parallel in den anderen Künsten stattgefunden hat, beschäftigen – und wenn ja, wie tun Sie das?
TP: Dafür hab ich ein einfaches Beispiel: In der Zeit, als Carl Philipp Emanuel Bach und Klopstock in Hamburg lebten, war es üblich, Poesie laut vor sich hinzusprechen – also man saß im Erker, und es war eine Abendbeschäftigung, neben dem Clavichord, das in jeder zweiten Familie stand, Poesie für sich alleine – nicht für andere – zu rezitieren. Es war normal, vor sich hinzurezitieren. Die Verbindung von Wort und Musik, die ist ganz eklatant in dieser Zeit.
TH: Es gibt Sonaten, zum Beispiel von Tartini, wo die Aufführungspraxis davon berichtet, dass sie so gespielt worden sind: Der erste Satz war ein Adagio lamentoso, der zweite Satz ein Allegro, der dritte Satz war ein Sonett von Torquato Tasso, der vierte Satz eine Gigue. Da sprach also der Geiger ein Sonett.
TP: Die Interpretation ist auch eine Frage von Reichtum und Armut in der musikalischen Sprache. Der Beethoven-Biograph Schindler hat zu dessen Kompositionen diesen herrlichen Satz gesagt von den „Popular-Philosophen, die jede tiefgreifende Abhandlung in der Sprache einer artigen Conversation beim Tee vorgetragen haben wollen." Und das geht mit Werken von Philipp Emanuel Bach oder Beethoven nicht. Und das zeigt doch auch den relativ hohen Beschäftigungsstand des Musikers CPE Bach mit seinem Umfeld.
HJF: Fällt CPE Bach nicht immer wieder auch unserem Hang zur Periodisierung zum Opfer? Zunächst kommt Barock, dann die Klassik – aber das unüberschaubare Dazwischen, die Frage, wie es zu dieser Weiterentwicklung gekommen ist und wer sich daran abgearbeitet hat, hat keine ordentliche Schublade.
MvD: Ich glaube nicht, dass das ein Grund ist, diesen Bach nicht einordnen zu können. Wenn Menschen gute Musik komponiert haben, dann möchten andere sie immer wieder hören, weil sie inspiriert. An den Schubladen liegt es nicht.
CF: Sind es nicht gerade diese vermeintlichen Zwischenzeiten, die im Grunde die produktiven sind?
MvD: Ja, wenn ein klarer Stil entwickelt wird und sich die Elemente dieses Stils geformt haben, dann haben die Künstler die Mittel, um großartige Kunst zu machen. Sie brauchen sich dann nicht mehr mit dem Entwickeln eines Grundstils zu beschäftigen. Die großen Komponisten wussten immer, wie sie stilistisch vorgehen, sie mussten nicht mehr wild experimentieren wie jene Künstler im Dazwischen. Der Instrumentenwandel und der Kontrapunkt spielen ebenso eine Rolle.
HJF: Haben Sie ein Beispiel für das wilde Experimentieren?
MvD: CPE Bach schreibt darüber seinen „Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" und einen zweiten Teil über den „Generalbass“, das harmonische Gerüst der Barockmusik. In der Einleitung schreibt er zunächst über die Instrumente: Orgel, Flügel – also Kielflügel, Cembalo – das Fortepiano und das Clavichord sind die am häufigsten benutzten Klavierinstrumente. Aber – und ich zitiere: „Es ist schade, dass die schöne Erfindung des Hohlfeldischen Bogenklaviers noch nicht gemeinnützig geworden ist man kann daher dessen Vorzüge noch nicht genau bestimmen. Es ist zu glauben, dass es sich bei der Begleitung gut ausnehmen würde.“ Er nennt also die vier Instrumente, die wir alle kennen, aber dann kommt das heute Unbekannte...
CF: Was ist das Hohlfeldische Bogenklavier?
MvD: Es ist ein mechanisches Klavier. Mit den Fußpedalen bedient man vier bis fünf Räder, die wie eine Drehleier oder eine mechanische Geige funktionieren, um einen dauerhaften Ton zu erzeugen. Mit diesem Instrument konnte man Dynamik und Artikulation generieren. Es war quasi ein komplettes Instrument, was sich aber nicht durchsetzen konnte. Und heute lässt sich ein solches Instrument nicht mehr ohne weiteres entwickeln – allein schon aus Kostengründen.
HJF: Wir sind immer noch den Gründen auf der Spur, warum es so leicht war, CPE Bachs Musik in den Hintergrund zu drängen. Beethoven hat mehr Glück gehabt, Telemann und selbst Johann Sebastian Bach hatten aber ebenfalls Schwierigkeiten, über die Zeitläufte gespielt und gehört zu werden.
MvD: Sowohl seine früheren Stücke, die württembergischen Sonaten als auch die preußischen werden gespielt. Und dann vereinzelt spätere Stücke – etwa das Abschiedsrondo vom Silbermannschen Clavier. Ich sehe jedoch einen anderen Grund: Wir sind zwar jetzt hier, um CPE Bach zu ehren, aber im Vergleich zu anderen Komponisten wie Johann Sebastian Bach oder Mozart muss man feststellen, dass nicht alles von Philipp Emanuel diese überragende Meisterschaft repräsentiert. In seinen besten Stücken ist er wahnsinnig interessant, faszinierend, einmalig und sehr persönlich auch revolutionär, aber es gibt ebenso viele Stücke, die zu lang sind, mit zu vielen Wiederholungen, ja, mit großen Schwächen. Manchmal ist in seinen Sonaten nur eine Stimme, in der alles passiert, und in der linken Hand ist nicht viel los. Es gibt große Qualitätsunterschiede bei ihm.
CF: Gibt es denn bei ihm eine Stringenz in der Entwicklung oder große Sprünge, Brüche? Hatte er selbst ein Gefühl für Qualität?
MvD: Er hat in allen seinen Lebensperioden große, wunderbare Stücke geschrieben. Viele von seinen besten, die Konzerte für Flügel oder für Cello ...
TH: ...das A-Dur-Cellokonzert ist fantastisch!
MvD: ...wurde von ihm früh geschrieben. Aber auch die fis-Moll-Fantasie ...
TP: ...ein fantastisches Werk!
TH: Und die Hamburger Symphonien...
HJF: Ist das nicht so: Wenn jemand so sehr auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen ist, dass es dann auch Stücke gibt, die nicht ganz den Gipfel erreichen? Dass es auch mal Um- und Irrwege gibt? Er steht ja mit einem Bein noch fest im Barock und mit dem anderen weit in der Zukunft – ein langer Weg.
MvD: Fest im Barock steht er nicht mehr.
TP: Na ja, er hat keinen Widerspruch zwischen dem Erbe seines Vaters gesehen und seiner eigenen Arbeit.
HJF: Er schrieb: „In der Komposition und im Clavierspielen habe ich nie einen andern Lehrmeister gehabt als meinen Vater“.
TP: Auch in seiner Biographie stellt er klar, dass er rückwärts und vorwärts gewandt ist – sein Werk ist eine Brücke, kein Bruch.
TH: Was ihn heraushebt, auch aus seinen Berliner Kollegen – Quantz, Graun oder Fasch, der später kommt, die ihm vom Hof vorgezogen und viel besser bezahlt wurden; Emanuel bekam 300 Gulden und Quantz, glaub ich, 2000: Carl Philipp hat immer mal wieder ein richtig spektakuläres Stück rausgehauen, ähnlich wie Berlioz, ganz verrückt und ohne Rücksichten auf kompositorische Vergangenheit. Er löst sich immer wieder vom väterlichen Erbe und schreibt Stücke wie die A-Dur-Symphonie, die fünfte der Hamburger Sinfonien, ein spektakuläres Stück – das hat in der Art zu komponieren etwas von Berlioz. Das hat eine Verrücktheit und ein Infiziertsein von literarischen Quellen.
Er war zudem berühmt dafür, musikalische Porträts zu improvisieren. Durch den ständigen Umgang mit Dichtern hat er viel Futter bekommen. Dann vermute ich, dass Carl Philipp Emanuel – wenn man seine Biographie durchschaut und das, was Leute über ihn geschrieben haben, und in Rechnung zieht, dass er die Tochter eines Weinhändlers geheiratet hat und es sich gern hat gut gehen lassen – in manchen seiner Kompositionen etwas faul war. Manche wirken einfach ein bisschen müßig, ich lese das durch und merke sofort: Da geht er einen ganz einfachen modulatorischen Gang, das war früher viel exzeptioneller.
Um tonartlich entlegene Bezirke zu erreichen, muss man einen Plan haben: Wo will ich hin, wie komm ich wieder zurück, will ich überhaupt wieder zurück? Was will ich damit erzählen? Wenn ich ein Stück in G-Dur beginne und dann moduliere ich in einen B-Tonarten-Bereich, was ja spektakulär sein kann, dann brauche ich dafür viermal mehr Zeit, als wenn ich den ganz normalen Aufbau mache.
HJF: Nun war er ja auch als eine Art Generalintendant für 130 Kirchenkonzerte im Jahr zuständig und 60, 70 andere, da muss man auch fragen: Wo hätte er die Zeit hernehmen sollen?
TH: Dazu kommt: Sein Vater, Johann Sebastian Bach, hatte ein große Werkstatt, ähnlich wie Stradiviari. Unglaublich viele Mitarbeiter, nicht nur seine Kinder, auch seine Schüler. Die schrieben gleichzeitig, und wir kennen manche Kantaten, die haben nur den bezifferten Bass von der Hand des alten Bach, und dann hat er gesagt: Nun mach du mal. Eine riesige Produktionsfirma. Wie auch bei Stradivari – der hatte bis zu einhundert Mitarbeiter. Ein Geigenbauer, dessen Instrumente heute noch weltweit zirkulieren und für Millionen Euro verkauft werden, ist herumgegangen, hat gesagt: Den Lack hier noch ein bisschen anders – und wenn er die tollen Instrumente für den französischen Hof baute, hat er wohl ein bisschen mehr selbst Hand angelegt.
So eine Fabrik hatte Carl Philipp nicht. Er war ein moderner Bürger, hatte seine Familie, aber er hatte nie viele Mitarbeiter. Er war in Berlin am Hof relativ isoliert. Nicht in der Stadt und als Privatmusikerzieher, der einen großen Zulauf aus ganz Europa hatte. Aber seinen Job hat er dann mehr unwillig als recht gemacht.
CF: Wäre es auch denkbar, dass er in Hamburg den damaligen Zwängen von Seiten seiner Auftraggeber unterlegen war? Der Kirche oder anderer?
TP: Das schreibt er – er äußerte am Ende seine Lebens, dass er relativ vielen Auflagen folgen musste beim Komponieren. Und in seinem Werk gibt es eine ganz klare Unterscheidung zwischen den Werken, die er für sich geschrieben hat, zum Beispiel diese A-Dur-Symphonie...
TH: ...und die von van Swieten beauftragten Stücke, wo es heißt: Hier hast du Geld, mach es, wie du willst...
TP: ...und die anlassbezogenen Stücke...
HJF: ...in denen er damals übliche Recycling-Techniken verwendet.
TP: Das ist vielleicht das, was Hengelbrock meint mit der „Faulheit" – wie diese Pasticci entstanden sind.
TH: Auch Mozart hat ja viel schreiben müssen, zum Teil aus Geldnot, und auch von ihm gibt es schwächere Stücke – aber von einem bestimmten Punkt, so ab KV 300, da gibt es nichts Schwaches mehr. Da lebt er als Künstler den ganzen Tag in dieser Welt und hält die Verbindung zum großen kompositorischen Kosmos aufrecht. Und das spürt man bei Carl Philipp nicht. Der hat tolle Eingebungen, sagt dann aber auch mal: Ihr Kompositionsgötter, nun lasst mich mal in Ruhe meinen Rotwein trinken.
HJF: Das Zeitalter des Wandels prägte seine alltägliche Musikpraxis. Er hat nicht mehr allein das Cembalo benutzt, er hatte das Clavichord, das Fortepiano, er kombinierte alle diese Instrumente, verwendete in einem Doppelkonzert sogar Cembalo und Clavichord gemeinsam. Wie hat dieser technische Wandel seine Musik beeinflusst?
MvD: Das ganze 18. Jahrhundert entwickelt einen großen Reichtum an Instrumenten, das war schon bei seinem Vater so. Lautenwercke [eine Art Cembalo mit Darmsaiten für einen weicheren Ton], Cembali mit 16-Fuß-Register, viele Innovationen im Klavierbau. CPE Bach schreibt, dass das Cembalo für ihn nicht mehr das wahre Instrument für Solostücke ist. Das Clavichord war vielmehr sein Hauptinstrument, für kleinere Musik, intimere. Aber wir wissen auch, dass er sein berühmtes Clavichord von Silbermann 1773 wieder verkauft hat. Und ich sehe in manchen späteren Klavierwerken, dasss er das Fortepiano als Hauptrichtung bevorzugt. Die Dynamik wird immer wichtiger, die Spätwerke könnte man gar nicht mehr auf dem Cembalo spielen.
HJF: Er mochte das Clavichord deswegen so sehr, weil es einen singenden Ton hat, der der menschlichen Stimme sehr nahe kommt.
MvD: Es hat eine große Flexibilität im dynamischen Bereich, und man kann den Tönen fast wie auf einer Geige viel Charakter geben, biegsam, schmeichelnd und ausdrucksvoll.
HJF: Er verlangte, „dass das Herz in Bewegung müsse gebracht werden"; er wolle keine Musik, die wie trommeln daherkommt und immer genau im Takt bleibt“ und „aus der Seele muss man spielen".
TP: Die empfindsame Zeit ist eine, in der die Aussagen eines Komponisten, aber auch des Spielers immer individueller werden. Er ist aus diesem geistig sehr reichen Berlin gekommen, aber das hat sich in Hamburg dann fortgesetzt, er ist in einem Umkreis mit Freunden gewesen, die die führenden Schriftsteller und Philosophen seiner Zeit waren. Von Hamburg ist der Sturm-und-Drang-Gedanke doch ausgegangen. Und man kann sich das geistige Umfeld CPE Bachs in Hamburg nicht stark und anregend genug vorstellen!
TH: Ähnlich wie heute...
CF: Das ist erklärungsbedürftig...
TH: Ich finde schon, dass sich viele interessante Leute hier versammeln, das Problem ist, dass damals, zu Carl Philipps Zeiten in Hamburg etwa 100.000 Menschen lebten, und heute sind es 1,8 Millionen. Als Friedrich II. 1743 das Opernhaus in Berlin eröffnete, die zweimal pro Woche spielte, bekamen alle Menschen die gut gekleidet waren und alle Gäste in der Stadt freien Eintritt. Die Leute kannten sich alle untereinander, und die, die was zu komponieren und zu erzählen hatten, die saßen zusammen. Heute macht es die Großstadt mit ihrer enormen Dichte an Veranstaltungen schwierig, solche Zirkel zusammen zu bringen, die sich gegenseitig befruchten. Bei der Menge an interessanten Leuten wäre das aber absolut möglich.
Das sind die KulturPort.De-Gesprächspartner:
Thomas Hengelbrock, Jahrgang 1958, begann seine Karriere als Violinist, ist Dirigent und Spezialist für historische Aufführungspraxis; er war 1985 Mitgründer des Freiburger Barockorchesters, ist immer offen für Experimente und ungewöhnlich Programme, und kam zur Saison 2011/12 nach Hamburg als Chefdirigent der Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks.
Thomas Pietsch, Jahrgang 1960, Barockviolinist in Hamburg mit Wurzeln in Potsdam, aktiv in vielfältigen musikalischen Zusammenhängen, lehrt am Conservatorium in Frankfurt/Main, zuletzt hervorgetreten mit einer großartigen Einspielung der Sechs Sonaten und Partiten für Violine solo von CPE-Vater Johann Sebastian Bach.
Menno van Delft, Jahrgang 1963, Cembalo- und Clavichord-Spieler aus Amsterdam, gewann 1988 beim CPE-Bach-Wettbewerb in Hamburg den Clavichord-Preis und ist seit 2006 Cembalo-Professor an der Hochschule für Musik und Theater.
Den zweiten Teil des Gesprächs lesen Sie bitte am Montag, den 10. März. Dann geht es um Hamburg als musikalisches Zentrum des 18. Jahrhunderts und die Reflexion des Komponisten CPE Bach aus heutiger Sicht.
www.cpebach.de - der Link zu allen Aktivitäten rund um den CPE-Bach-Geburtstag.
Carl Philipp Emanuel Bach: Hamburger Symphonie D-dur. NDR-Sinfonieorchester. Leitung: Thomas Hengelbrock.
Fotonachweis:
Header: Detail aus Adolph Menzel (1815-1905) „Flötenkonzert Friedrich des Großen in Sanssouci“, 1850-52
Mitte: Friedrich der Große. Am Cembalo: Carl Philipp Emanuel Bach. Ganz rechts: Johann Joachim Quantz, des Königs Flötenlehrer; links von ihm mit Violine im dunklen Rock: Franz Benda; ganz links im Vordergrund: Gustav Adolf von Gotter; hinter ihm: Jakob Friedrich Freiherr von Bielfeld; hinter ihm, an die Decke schauend: Pierre-Louis Moreau de Maupertuis; in Hintergrund auf dem rosa Sofa sitzend: Wilhelmine von Bayreuth; zu ihrer rechten: Amalie von Preußen mit einer Hofdame; hinter ihnen: Carl Heinrich Graun; alte Dame hinter dem Notenständer: Gräfin Camas; hinter ihr: Egmont von Chasôt.
Galerie:
01. Carl Philipp Emanuel Bach, gemalt von Johann Philipp Bach, Pastell auf Papier, um 1780
02. Thomas Hengelbrock. Foto: Felix Borkenau
03. Thomas Pietsch. Foto: Felix Borkenau
04. Menno van Delft. Foto: Felix Borkenau
05. Hamburg, um 1750. Stich von Johann Georg Ringlin
06. Key Visual für das CPE-Bach-Jubiläumsjahr 2014.
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