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Musik

Er hat sich jahrzehntelang damit beschäftigt. Seine Einspielung von Bachs Solosonaten, die er in diesem Jahr veröffentlicht hat, ist ein einsamer Gipfelpunkt von Geigenkunst und Spielkultur. Wenn Thomas Pietsch seine Violine von 1672 – ein Prachtstück des Wiener Geigenbauers Hannß Khögl – spielt, dann lebt Bachs Musik, sie atmet, sie singt, der Bogen tanzt bei den alten Tanzsätzen, sie leuchtet von innen. Sie nimmt sich alle Freiheiten, denn sie wird nicht in ein sklavisch durchgehaltenes Metrum gepresst, ist lebendige Klangrede. Und Pietschs überragende Technik ist nur Voraussetzung, nie Selbstzweck.

Wer Barockvioline spielt, geht in der Aufführungspraxis ganz bewusst zwei, drei Jahrhunderte zurück. Pietsch ist leidenschaftlicher Verfechter der These, dass nicht alles, was Fortschritt heißt, besser sein muss. „Moderne Geigen sind ja eigentlich spätromantische, sie gelten als Fortschritt im Instrumentenbau. Aber was ist da passiert? Man hat die wertvollen alten Violinen aufgemacht, hat ihnen das Herz herausgerissen – den originalen Bassbalken. Und den Winkel des Halses steiler gestellt, um in der Mitte der Geige mehr Kraft ausüben zu können. So hat man eine schöne offene Tiefe und einen schönen Obertonbereich eingebüsst. Dafür sind die Instrumente durchsetzungsfähiger geworden.“
Seine Skepsis gilt auch bei den Bögen: „Die sind wie verschiedene Parfüms. Ich nehme einen Originalbogen von 1720 in die Hand, und der gibt langen Tönen eine Gestalt, dass man ins Schwärmen gerät. Mit einem ‚modernen’ Bogen können Sie andere tolle Sachen machen, aber mit dem alten Bogen ist die Modulationsbreite größer. Wenn der gut gemacht ist, geht das Herumfahren um die Saiten, wenn drei gleichzeitig klingen sollen, wie mit einem dunkelroten Samtband – warm und weich und groß.“

Seine Zweifel am Fortschritt hat er auch beim Spielen selbst. „Es sollte immer so klingen, als sei es quasi improvisiert. Ich suche nie nach einer sowieso nicht erreichbaren technischen Perfektion, strebe aber eine musikalische Vollkommenheit an. Ich suche eine Musiksprache, die nicht nach Metronom funktioniert, minuziös ausgerechnet und abgehackt. So funktioniert unsere Sprache ja auch nicht. Das Erzählen, das Gestalten ist es doch, was Musik so klingen lässt, als sei sie im Augenblick entstanden.“

Doch das Spontane, sagt Pietsch, ist immer mehr verloren gegangen. Was es früher an selbstverständlichen Spielkonventionen gab, wurde schon ab Bachs Zeit immer akribischer notiert und geriet als freies Gestaltungsmittel in Vergessenheit. „Das Sichere, Berechenbare setzt sich durch, das Kantable geht verloren.“ Und das Kantable, das ist die Inégalité, das Ungleiche, Unberechenbare, Überraschende, das nicht Normierte, das Freie. „Egalité ist in Sprache und Musik die absolute Ausnahme.“

Der Wunsch nach „Inégalité“ zieht sich ohnehin wie ein roter Faden durch sein Leben. Aufgewachsen ist er in Potsdam, im Park von Sanssouci. In einem musikalischen Kunsthistoriker-Theologen-Elternhaus. Geigenbauer will er werden, doch der Wunsch zu Musizieren ist stärker. Weil er sich Aufmarschproben zu den Jugendweltfestspielen 1973 verweigert, fliegt er von der Musikhochschule in Ostberlin. Er wird gemustert, soll Soldat werden. Ihn ärgert’s, dass Aufführungen mit historischen Instrumenten damals in der DDR noch wenig Chancen haben. Pietsch entzieht sich dem Staat, der nicht seiner ist, am 7. Juli 1974 im Kofferraum eines orangefarbenen VW-Käfers, einen Geigenkasten fest an sich gepresst. Der Wagen hinter ihnen wird gefilzt, ihrer nicht. Mit 19 Jahren ist Pietsch in der Freiheit angekommen.

Er landet in Hamburg, wo er heute mit seiner Frau, der Organistin Dagmar Lübking, in Eppendorf in einer Wohnung voller Musik lebt. In Hamburg studierte er Musik und gründete 1980 das „Ensemble Sanssouci“, das heute „Jupiter-Ensemble“ heißt. Er konzertiert mit vielen anderen Größen der Barockmusik, vor allem mit seinem Duo-Partner, dem Cembalisten Bob van Asperen, spielt bei Festivals, gibt Meisterkurse und leitet am Frankfurter Conservatorium eine Klasse für Barockvioline. Und kommt im Gespräch schnell wieder auf Bach, den er nicht als singulären Riesen sieht. „Er hat die Musik des norddeutschen Stylus fantasticus, die französische der Klangmystiker Marin Marais und St. Colombe, die italienische von Corelli, Vivaldi und Albinoni bestaunt und studiert in den Bibliotheken in Lüneburg, bei Buxtehude in Lübeck, bei Reinken in Hamburg, vielleicht auch in Celle, wo es eine französische Hofkapelle gab, und ist von vielen Wurzeln her zu seiner ganz eigenen Musiksprache gekommen. „Das nicht zu sehen, macht ihn klein, weil damit negiert wird, wie umfassend er gebildet war“, sagt Pietsch.

Umfassend gebildet muss auch der Bach-Interpret sein, um diese Traditionen in den „Sei Solo“ mit Leben zu erfüllen. „Trotzdem ist und bleibt es eine Kunst, die im Moment entsteht. Sie ist abhängig vom Raum, von der Akustik, vom Ambiente. Ein ständiges Aufnehmen und Reagieren. Man kann ja in den fünf Notenlinien nichts notieren, was dann im Konzert erklingt. Sie können als Komponist dem Violinisten nur die reine Komposition mitteilen.“
Pietsch sieht seine Art zu spielen als Befreiung von neueren, einengenden Traditionen. „Und meine Zuhörer sollten es hören wie ein zu bestaunendes Kunstwerk. So, wie man vor einem Bild stehen bleibt und denkt: Mein Gott, ist das schön!“


J. S. Bach: "Sei Solo", Sonaten und Partiten BWV 1001-1006. Thomas Pietsch, Barockvioline. Es-Dur c2
Katalognummer: ES 2043; EAN: 4015372820435
www.c2hamburg.de

Mit Dank an das Hamburger Abendblatt

Fotonachweis:
Header: Thomas Pietsch. Foto: Asmus Henkel / sowie CD-Cover

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