Musik

Es war ein apokalyptischer Akkord, den Japan im Jahr 2011 erlebte: zuerst ein Seebeben der Stärke 9, dann ein tödlicher Tsunami, der schließlich die Atomkatastrophe auslöste, deren Folgen ganze Landstriche bei Fukushima verändert haben. Nicht nur das Land, sondern auch das Leben, das Empfinden und die Seelen der Menschen.

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Der Name Fukushima kommt nicht ein einziges Mal vor in der Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hokosawa, die am Sonntag in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt wurde – knapp fünf Jahre nach der Katastrophe. Den Namen Fukushima braucht es nicht – er wäre auch nichts anderes als ein weiterer Name des unsagbaren Schreckens, der Planungen und Lebenslinien und -grundlagen der Menschen auf mörderische Art zerstört. Auch eine wirkliche Handlung kann es nicht geben – welche Entwicklungen wären schon denkbar angesichts des namenlosen Grauens?

In Oriza Hiratas Text, den Dorothea Gasztner ins Deutsche übersetzt hat und Hannah Dübgen zum Libretto werden ließ, werden Momentaufnahmen eingefangen: die Trauer der Menschen, die sich zum traditionellen Laternen-Ritual für die Verstorbenen am Strand treffen, zum Friedhof aber nur in weißer Schutzkleidung gehen können. Die unstillbare Trauer von Claudia, einer Tänzerin/Tanzlehrerin mit deutschem Migrationshintergrund, die ihren japanischen Ehemann Takashi und ihren Sohn Max aus einer früheren Beziehung in Deutschland durch den Tsunami verloren hat. Fortgespült beim Angeln. Nie wiedergesehen, nicht einmal die toten Körper. Sie verweigert es, sich den Tod ihres Kindes einzugestehen. Und bleibt in der Realität der Zeit davor gefangen. Stephan, Max Vater, der mit seiner eigenen Wunde ihrer Trennung im Herzen nach Japan kommt, um Claudia zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen – und zur Rückkehr zu ihm? Takashis Schwester Haruko, die ebenfalls versucht, Claudia in die Wirklichkeit zurückzuholen setzt auf das Nachspielen einer Nô-Theater-Szene – einer Beschwörung Buddhas, die den toten Sohn für ein paar Momente zurückholen soll. Und ein ulkiger Roboter, der mit Maschinenstimme den Strand einteilt in „Sicherheitszone“ und „Gefahrenzone“ und ganz nebenbei das Heilsversprechen der Technik ad absurdum führt.

Es sind Chiffren und Kontrapunkte für das Schmerzvolle, das Unfassbare. Bilder und Szenen, die unter die Haut gehen, gerade in ihrer meditativen Distanz zum Nachrichtengeschehen und der vergifteten, unheilvollen Ruhe, die das alles ausstrahlt. Die Natur, die reale und spirituelle Heimat, wird zerstört und selbst zur Bedrohung. Wo ist der Mensch nun zuhause?

Auch Toshio Hosokawa – Jahrgang 1955 und Japans wohl bedeutendster Komponist, der in Deutschland studiert hat – gern auf der Suche nach Klangbrücken zwischen Ost und West – beschreibt keine Entwicklungen in seiner Musik. Aufsteigend aus dem ewigen Klang des Meeres hat er Klangatmosphären entworfen, changierende Klangwolken, die ähnlich der Beleuchtung der Bühne mit ihren kaum greifbaren Wechseln Stimmungen evozieren, sie schwingen und schweben lassen. Eine tritonus-kontaminierte Musik, die ihre Zuhörer nicht irgendwohin mitnimmt, sondern sie immer wieder auf sie selbst und ihre eigenen Gedanken und Gefühle zurückwirft. Sie manchmal mit feinsten Tonfäden umgarnt und einspinnt, dann wieder mit geradezu physisch spürbarer Urgewalt erschüttert – wie beim das Erdbeben-Gewitter, das die philharmonischen Schlagwerker zu diabolischem Lärm entfesselt.

Ist das noch Oper oder schon Meditation?
Hosokawa findet keine überraschenden Wege zwischen dem Melodischen und dem nervennagend Atonalen. Aber er baut eine konzentrierte Spannung auf, die über die ganzen 90 Minuten trägt, selbst dann, wenn sich seine Partitur in äußerster Reduktion weit zurücknimmt. Ist das noch Oper oder schon Meditation? Mit dem Mantra „Ist die Nacht ohne Mond, frag die Sterne. Ist die Nacht ohne Sterne, frag die Wellen. Ist die Nacht ohne Wellen, frag die Wolken.“ Und den drei Fragen: „Vergeht das Meer? Vergeht der Himmel? Vergeht der Himmel?“, zu dem sich alle auf der Bühne zum Chor vereinen.

Das Bühnenbild von Itaru Sugiyama nimmt in seiner Bildsprache die Reduktion auf: Eine zum Publikum hin abfallende gläserne Kreisfläche ist der zentrale Handlungsort. Ein nach rechts ansteigender Steg ist Claudias Reich, ihre Verbindung vom Irdischen zum Spirituellen, in das sie sich immer wieder flüchtet. Und irgendwo hinten der Strand. Elf weiße Leuchtröhren, die von oben wie glühende Brennstäbe in das Geschehen hineinstoßen, sich heben – am Anfang – und am Ende wieder senken. Eine bleibt immer sichtbar, Nadel im Fleisch, Mahnung, dass hier nichts mehr ist wie vorher. Einmal lässt das Bühnenbild schemenhaft die gewaltige alles verschlingende schwarze Wand der Riesenwelle aufscheinen. Sonst nichts. Außer dem Licht von Daniel Levy, das das seine beiträgt, die Stimmungen fast greifbar dicht erlebbar zu machen.

Als Regisseur folgt Oriza Hirata demselben Konzept: Er illustriert nicht, was nicht zu illustrieren wäre. Sondern stellt die Frage: Was muss geschehen sein, damit Menschen so handeln, wie sie das hier tun? Und führt sie in ihren durch die Katastrophe eingeengten Spielräumen vor. Claudia mit ihrer unlösbaren Verbindung an eine unsichtbare Wirklichkeit. Stephan, der immer noch von seiner Beziehung zu Claudia träumt. Haruko, die das Funktionieren des Lebens wiederherstellen will. Auch hier kaum Handlung, sondern Ideen, Möglichkeiten, betrachtet, ausprobiert oder verworfen. Manchmal rumpelt das ein wenig – die zerbrochene Beziehung der Deutschen inmitten der zerstörten Lebenswelt in Japan. Da wirken Worte unbeholfen, und man wäre für einen japanischen Text mit Übertiteln dankbarer.

Kent Nagano, punktgenaue Philharmoniker und starke Solisten
Anders ist das an den wenigen Punkten, wo gesagt wird, was wirklich los ist im verseuchten Land: dass immer wieder Schuhe angeschwemmt werden am Strand – einzelne Schuhe, nie ein Paar. In welchem Zustand die Leichen angeschwemmt werden. Dass man nichts über Max weiß, weil der Landstrich nach der Katastrophe evakuiert wurde und keiner nach ihm suchen konnte. Der Streit in den Familien: Gehen oder Bleiben? Das Misstrauen gegenüber denen, die gegangen sind; an deren neuen Wohnorten. Dass man die Ahnen auf dem Friedhof nur noch im Schutzanzug besuchen kann.

Mithilfe der Musik entfaltet Hosokawa eine wundersame Magie. Wenn etwa Stephan für Augenblicke selbst von seinem Sohn spricht, als ob der noch lebe, als ließe er sich hineinziehen in die Traumwelt von Claudia. Wenn Haruko die schamanisch wirkende Beschwörung des toten Sohnes anstößt: „Namu Amida Butsu“. Die dann mit einem verblüffenden und genialen Einfall in die Realität mündet.
Kent Nagano ist in Hosokawas Musik spürbar zuhause. Er entfaltet dessen verstörende Klangwelt, baut ihre innere Spannung auf, schmerzlich, immer eine Spur verrückt in einer verrückten Welt. Das Orchester vertraut dem Maestro, lässt sich auf das interkulturelle Experiment ein, punktgenau. Wenn das ein weiterer Schritt hin zum von Nagano vielbeschworenen Hamburger Klang ist, darf man sich freuen.

Auch die Solisten sind klug gewählt und werden durch Naganos sparsame, präzise Gesten gut geführt. Stimmlich brillant allen voran Countertenor Bejun Mehta als Stephan, bei dem es wie bei allen Solisten des Abends überflüssig ist, nach der Übertitelung zu schauen – jedes Wort ist klar verständlich artikuliert, jede Emotion übersetzt er direkt in Musik, ohne ein einziges Mal zu überziehen. Klar leuchtend bis in die Spitzentöne, und nicht eine Phrase kommt routiniert daher – alles ist auf diesen einzigen Moment hin gestaltet. Grandios! Mindestens ebenso überzeugend wirkt Susanne Elmark als Claudia, die ihren Sopran traumsicher in feinste Höhen schickt und die Fäden des schwer verwundeten, verwirrten und manchmal entrückten Charakters sicher in den Händen behält.

Mihoko Fujimura singt die Mezzopartie der Haruko mit klarer Stimme und realistischer Härte, und kann zwischen den beiden Protagonisten hervorragend bestehen. Was auch für Viktor Rud (einziges Ensemblemitglied im Solistenreigen) und Marek Gasztecki gilt.

Nicht das Heute in Opern von gestern, sondern Opern von heute
Am Ende von „Stilles Meer“ gibt der Chor letzte, hilflos wirkende Antworten: „Vergehen die Berge, so weinet still. Vergeht das Meer, so lächelt milde. Dann rauscht es wieder, das Meer. Und wirkt, nach dem Gehörten und Erlebten, bedrohlich. Selbst wenn die unauslöschliche Hoffnung siegen sollte: Wird, was dort geschehen ist, je wieder zu heilen sein?

Kent Nagano und Opernintendant Georges Delnon jedenfalls konnten – nach Michael Wertmüllers „Weine nicht, singe“ in der opera stabile – mit dieser Auftragskomposition für die Hamburgische Staatsoper einen zweiten, größeren Schritt machen, ihr Versprechen einzulösen: Nicht krampfhaft mit allerlei Regiepirouetten zu versuchen, in den Opern von gestern die Konflikte von heute und morgen wiederzufinden, sondern Opern von heute auf die Bühne zu bringen, in denen verhandelt wird, was heute wichtig ist. Das Premierenpublikum dankte es ihnen mit anhaltendem Applaus, der für Hamburger Verhältnisse geradezu überschwänglich lange anhielt.

Die Premiere wurde übrigens nicht nur von NDR Kultur live im Hörfunk übertragen, sondern auch von Unitel für den japanischen Fernsehsender NHK aufgezeichnet – ein guter und wichtiger Baustein für eine neue Präsenz Hamburgs auf der internationalen Opern-Landkarte.

Wer das Prinzip der Oper von Hosokawa/Hirata noch nicht ganz verstanden hat, bekommt im Foyer einen weiteren Hinweis. Auf großen Porträtfotos der kleinen Ausstellung „Low Tide“ des französischen Fotografen Denis Rouvre sind dort die Gesichter von Menschen zu sehen, die das Grauen der drei Katastrophen überlebt haben. Man wird unwillkürlich in ihren Gesichtszügen, ihren Augen danach forschen, was sie erlebt haben und wie sie damit umgehen in der Zeit danach. Und man muss nicht Japaner sein, um darin Gedanken zu finden, die noch lange nachklingen.

Stilles Meer
Oper von Toshio Hosokawa. Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße.
Nächste Vorstellungen: Mi, 27.1., Sa, 30.1., Di, 9.2., Sa, 13.2., jeweils 19.30 Uhr. Werkeinführung immer 40 Minuten vor Beginn in er Stifter-Lounge. Karten im Internet oder unter Tel.: (040) 3568 68, 5 bis 87 Euro.

Diskussion „Fluchtpunkt Japan“ mit Oriza Hirata: 13. Februar, 21.30 Uhr, Foyer der Staatsoper.

Videobericht aus den Tagesthemen


Abbildungsnachweis: Alle Foto © Arno Declair
Header: Susanne Elmark, Mihoko Fujimura, Bejun Mehta
Galerie:
01. Mihoko Fujimura, Bejun Mehta
02. Vokalsolisten Hamburg, Roboter, Viktor Rud, Bejun Mehta, Susanne Elmark
04. Mihoko Fujimura, Bejun Mehta, Susanne Elmark
04. Bejun Mehta, Susanne Elmark, Vokalsolisten Hamburg
05. Vokalsolisten Hamburg, Roboter