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Als der Junge zehn Jahre alt war, kamen in Berlin die Nationalsozialisten an die Macht, und es dauerte nicht lange, bis die Giordanos wegen der "jüdischen" Mutter ins Fadenkreuz der alltäglichen nationalsozialistischen Ausgrenzung, Verfolgung und später Mordabsichten gerieten. Beim Spielen auf der Straße fing das an – die unerwartete Entsolidarisierung eines Bis-dahin-Freundes. „Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude" hat sich ihm fürs Leben eingebrannt. Die Ressentiments schlichen sich in seinen Alltag, eroberten ihn schließlich.

1940 wurden Giordano und ein Bruder nach einer Zeit des Psychoterrors im Unterricht von der Gelehrtenschule des Johanneums in Winterhude vertrieben. Zweimal holte ihn die „Geheime Staatspolizei" ab, er wurde im Stadthaus verhört und gefoltert, auf dass er seine Mutter falsch beschuldige und ans Messer liefere – Tage grausamer Demütigung und nackter Todesangst. Auch sie hat er nie vergessen. Sie haben ihn bis in späte Albträume verfolgt.

Als kurz vor Kriegsende die Deportation der Mutter Richtung Osten, und das wusste man, in den sicheren Tod angeordnet wurde, versteckte sich die Familie in einem feuchten Alsterdorfer Kellerloch, das ihnen Gretel Schulz, eine mutige Hamburgerin, überlassen hatte. Vom 14. Februar 1945 an vegetierten sie im Dunkeln zwischen Ratten. Sie wären beinahe verhungert, bis Gretel Schulz am 4. Mai 1945 das Ende der Schrecken verkünden konnte: „Die Scheiße hat ein Ende." Die Engländer hatten Hamburg befreit.

Giordano verarbeitete Erleben der Nazizeit zu einem Buch
Davor lag eine furchtbare Zeit,. Ein Lehrer trieb ihn beinahe in den Selbstmord. Im Kellerloch war er bereit, seine geliebte Mutter zu erschießen, ehe sie in die Hände der Nazis fallen konnte – einmal fehlten dazu nur wenige Sekunden. Giordano fasste damals zwei Entschlüsse. Den einen machte er erst Jahrzehnte später publik: In eine Welt, die zu solchen Gräueln fähig ist, würde er nie Kinder setzen. Ein Entschluss, über den er erst im Alter gesprochen und den er heftig bereut hat.

Der zweite Vorsatz war, das schreckliche Erleben der Nazizeit zu einem Buch zu verarbeiten. Die Notizen dafür rettete er durch die letzten beiden Kriegsjahre. „Das Buch" – unter diesem Begriff geisterte es durch seinen Kopf, als der Titel „Die Bertinis" noch nicht gefunden war – musste noch fast vierzig Jahre warten. Er hat, so sagte er, jeden Tag daran gedacht, hat Sätze geformt, an Formulierungen gefeilt. Doch zuvor war anderes wichtiger.
An vieren ihrer Peiniger, so hatten es Ralph Giordano und sein älterer Bruder Egon es vor, wollten sie Rache nehmen, darunter "Speckrolle", einer der fanatischen Nazi-Lehrer vom Johanneum. Sie suchten und fanden ihn, auch hier war die Pistole schon entsichert – sie ließen ihn leben. Giordano Auseinandersetzung mit der Unmenschlichkeit fand andere Wege.

Ein Trugschluss – „die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde" – führte Giordano zunächst in die DDR, vom dort zur Schau getragenen Antifaschismus angezogen. Er besuchte Mitte der 1950er-Jahre die Schriftstellerschule in Leipzig, arbeitete als Journalist, bis ihn seine Abneigung gegen das stalinistische Regime zurück in den Westen holte. Giordano blieb Journalist, er arbeitete ab 1961 für das Fernsehen des Norddeutschen Rundfunks, drei Jahre später zog es ihn als Dokumentarfilmer zur Hauptabteilung „Zeitgeschehen" des Westdeutschen Rundfunks. Er siedelte dafür nach Köln um. 38 Länder hat er bereist, mehr als 100 Dokumentationen hat er bis 1988 gedreht, sein Thema waren immer wieder der Umgang mit Minderheiten, Ungerechtigkeit, Hunger und die Bedrohung der Menschenrechte. Dreimal wurde er für seine Arbeit mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.

Schicksal der Familie Giordano bewegt die Republik
Immer aber kreiste in seinem Kopf die Idee zum „Buch". 1982 war es so weit: "Die Bertinis", so lautete nun der Titel seines autobiografisch geprägten Familienromans, erschienen im S. Fischer Verlag. Das Schicksal der Familie Giordano während des Dritten Reichs bewegt die Republik, Giordano wird zu Lesungen eingeladen, ist häufig als Zeitzeuge in Schulen präsent. „Die Bertinis" werden für ihn, nach dem Ausscheiden beim WDR 1988, der Start in ein drittes Leben. Er, der gelernt hat, genau hinzuschauen, nimmt sich weitere Themen vor. Als nächstes "Die zweite Schuld, oder von der Last, ein Deutscher zu sein": die Auseinandersetzung mit der flächendeckenden Verdrängung, dem ungeheuerlichen Schweigen anstelle einer offenen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Giordano hat den Blick für drängende Themen, er ist ein sensibler Beobachter und scheut sich nicht, was er sieht, unmissverständlich, oft provokativ klar niederzuschreiben und auszusprechen. Es folgen Bücher wie „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte", „Israel, um Himmels willen, Israel", „Wird Deutschland wieder gefährlich?", „Die Traditionslüge – Vom Kriegskult in der Bundeswehr". Dazu Reisebücher mit Blick für Historie und soziale Zustände: „Ostpreußen ade – Reise durch ein melancholisches Land", „Mein irisches Tagebuch", „Deutschlandreise – Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat", "Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr". Bestseller allesamt.

Vor allem aber wächst er in die Rolle der gefragten moralischen Autorität hinein, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht geht. Aus seinem zentralen Thema der Humanitas als Gegenpol zum Nazi-Unrecht findet er weitere: die Bedrohung der deutschen Juden durch den neuen Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Eine große Debatte löst 1992 sein "Offenes Telegramm" an Bundeskanzler Helmut Kohl aus, in dem er den Vorwurf erhebt, der Staat vernachlässige den Schutz vor antisemitischen und ausländerfeindlichen Anschlägen; Juden seien in Deutschland gezwungen, "bis in den bewaffneten Selbstschutz hinein" für ihre Verteidigung zu sorgen.

Giordano liebte die Alster
Giordano ist in vielen brisanten Debatten präsent. Er setzt sich – nach ganz persönlichen Erfahrungen mit den Krebsleiden seiner beiden Ehefrauen – öffentlich für aktive Sterbehilfe ein. Er hinterfragt den Bau der Großmoschee in Köln-Ehrenfeld, bezeichnet ihn als „Kriegserklärung" und „Landnahme auf fremdem Territorium", er zweifelt auch angesichts des „Arabischen Frühlings" an der Demokratiefähigkeit des Islam. Er will keine Burkas auf den Straßen sehen, "das ist Teil meiner kulturellen Selbstbehauptung"; und er prangert linke Multikulti-Träume an als "politische Correctness, die ja das eigentliche Unglück ist".

Es ist keine leichte Arbeit, die er da schultert. Nicht nur setzt er sich immer aufs Neue der Erinnerung an seine Erlebnisse während der Nazi-Zeit aus. Seine Aktivitäten tragen ihm vielhundertfach hasserfüllte Morddrohungen ein – für ihn sind sie der Beweis dafür, wie notwendig es ist, den Finger in offene Wunden zu legen. Er lässt sich nicht einschüchtern, bleibt unbeugsam, auch wenn er manchmal Freunde und Gleichgesinnte irritiert. Die lange unentdeckte Mordserie des Neonazi-Netzwerks NSU hatte ihn als schon Hochbetagten noch einmal aufgeschreckt. „Mir wird bange um die demokratische Republik – die einzige Gesellschaftsform, unter der ich mich sicher fühlen kann."

Dabei war Ralph Giordano keiner, dem das Wort „Versöhnung" fremd war. Erkannte er kritische Auseinandersetzung und echte Reue, war er sogar bereit, ehemaligen Nazis die Hand zu reichen. Mehrfach hat er eine Rückkehr nach Hamburg erwogen, ist vieler Freunde wegen dann doch in Köln geblieben. Die Verbindungen nach Hamburg aber sind seit Mitte der 90er-Jahre wieder gewachsen. Er kam oft, liebte die Alster und – als bekennender Dampfmaschinen-Fan – den Alsterdampfer „St. Georg". Knüpfte neue Verbindungen zum Johanneum, wo er 2013 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Und zum Ernst Deutsch Theater, wo jedes Jahr am 27. Januar, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, der Bertini-Preis verliehen wird. Der ist benannt nach Giordanos Buch. Unter den Förderern des Preises war von Beginn an auch das Hamburger Abendblatt.

Giordanos Vermächtnis wird weiterleben
Verliehen wird er an Jugendliche, die im Sinne der Erfahrungen und Überzeugungen, für die der Autor der „Bertinis" eingetreten ist, Zivilcourage zeigen. Das Unrecht der Vergangenheit vor dem Vergessen bewahren, indem sie vergessene Kapitel der Hamburger NS-Geschichte aufarbeiten, sich gegen aktuelle Ausgrenzung – etwa durch Abschiebungen oder Armut – engagieren, dem Rechtsextremismus entgegentreten, in konkreten Situationen couragiert handeln. 100 Gruppen oder Einzelpersonen wurden bisher ausgezeichnet, 1500 Jugendliche insgesamt. Immer war Ralph Giordano dabei, sein Markenzeichen, den roten Schal, um den Hals gelegt, als Ehrenvorsitzender des preisstiftenden Vereins. Er verneigte sich vor dem Einsatz der Jugendlichen, die ihren „Herzen folgten".

Es gebe ihm die Zuversicht, dass der Bertini-Preis seine Botschaft „Lasst euch nicht einschüchtern" weiter verkünden werde, „auch wenn sein Ehrenvorsitzender nicht mehr da ist". Der Bertini-Preis – für Giordano war er Antrieb und Erfüllung zugleich. Auch als ihn mit knapp 90 Jahren, für ihn selbst völlig überraschend, doch noch das Alter erreichte. Hatte er doch mit 88 Jahren noch Pläne geschmiedet, noch einmal Israel zu bereisen. Wie man wohl einen Jeep dort bekommen könne, den er selbstverständlich selbst steuern würde?

Dazu kam es nicht mehr. Bis zuletzt aber arbeitete Giordano für sein Herzensprojekt, schloss im November die Textfassung für ein „Bertinis"-Benefiz-Hörbuch ab. Nicht müde, nur sehr erschöpft bestand er darauf: „Meine Mission ist noch nicht zu Ende." Unbedingt wollte er bei der Aufnahme auch als Sprecher dabei sein. Am Ende blieb ihm dafür die Kraft nicht mehr.
Ralph Giordano ist tot. Sein Vermächtnis wird weiterleben.

Das Motto des Bertini-Preises
„Hinschauen, wenn andere wegsehen,
sich einmischen, wenn andere schweigen,
erinnern, wenn andere vergessen,
eingreifen, wenn andere sich wegdrehen,
unbequem sein, wenn andere sich anpassen.“
www.bertini-preis.de


Mit Dank an das Hamburger Abendblatt für die Überlassung des Nachrufs.
Abbildungsnachweis:
Header: Ralph Giordano, Dresden 2008. Quelle: Wikipedia

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